Das Knochenhaus
an, mit dessen Hilfe er kommunizieren konnte und auch ein Gefühl dafür bekam, wie der Fluss-Stadt-Clan die Welt sah.
Untereinander sprachen sie immer noch nicht allzu viel. Doch mit ihm zusammen wurden sie regelrecht zu Plappermäulern. Der Unterschied war krass, und Kit wunderte sich darüber, bis ihm die offenkundige Erklärung dafür einfiel: Sie mussten sich nur sehr selten besprechen, weil sie über diese seltsame Telepathie verfügten – oder was auch immer das war, was ihnen ermöglichte, die Gedanken der anderen zu kennen. Mit anderen Stammesmitgliedern kommunizierten sie ausgezeichnet ohne irgendeine Form der Rede überhaupt; nur Kit war gezwungen zu sprechen, um sich verständlich zu machen.
Eine endgültige Bestätigung dafür erhielt er eines Tages, als Besucher eintrafen.
Das Wetter war ständig kälter und feuchter geworden, und die Tage wurden immer kürzer. Wenn sie morgens aufwachten, herrschte meistens Bodenfrost. Doch in ihrer höhlenartigen Felsenfestung, in der sie es sich gemütlich gemacht hatten, blieben sie trocken und halbwegs warm. Kit nähte sich einen stattlichen neuen Anzug aus Fellen und Pelzen – zumeist von Hirschen und Hasen. Mit Geduld und verbissener Ausdauer flickte er Teile zusammen, wobei er das Feuersteinmesser, die Knochennadel und den Hanffaden benutzte, die sie ihm gegeben hatten. Er vollendete gerade eine Besonderheit, über die er ungewöhnlich stolz war – eine geräumige Innentasche, die er entworfen hatte, um Minas Ley-Lampe und Sir Henrys Buch sicher aufzubewahren –, und der Stamm hatte es sich um das Feuer am Rande des Felssimses herum gemütlich gemacht, als Dardok plötzlich aufstand und in die nebelumhüllten Baumspitzen entlang des Flusses starrte.
Augenblicklich gesellten sich vier andere zu ihm, um das Tal unter ihnen prüfend zu überblicken. Die restlichen Stammesmitglieder hörten sofort mit dem auf, womit sie sich beschäftigten, und wurden vollkommen still. Eine Atmosphäre starker Besorgnis senkte sich über das Lager. Erneut wurden weder Worte geäußert noch irgendwelche Zeichen gemacht. Doch alle waren wachsam, und die Anspannung wirbelte um sie herum wie eine kräftige, sich windende Schlange. Kit stand auch auf und schlich leise zum Rand des Felssimses, um zu sehen, ob er entdecken konnte, was die anderen alarmiert hatte. Ein oder zwei Minuten vergingen schleppend, und dann hörte er ein Geräusch, dass er jeden Tag vernommen hatte, seit sie ins Winterquartier gekommen waren: die Schritte schwerer Füße auf dem felsigen Pfad, der zum Felssims führte.
Es kam jemand.
Kit wartete. Er spürte ein Prickeln in all seinen Sinnen und sammelte seine Kräfte für einen Kampf. Wer war das? Wurden sie angegriffen? Hastig blickte er um sich und suchte nach der am nächsten gelegenen Waffe.
Und dann, wie auf ein geheimes Kommando, entspannte sich der ganze Clan. Obwohl Dardok immer noch dastand und den Pfad unten beobachtete, schmolz das greifbare Gefühl drohender Gefahr einfach dahin. Etwas hatte sich geändert. Aber was?
Bevor Kit feststellen konnte, was geschehen war, das zu dem Stimmungsumschwung geführt hatte, erblickte er eine Bewegung auf dem Pfad, der zum Felssims hochführte. Einen Augenblick später kamen ihre Besucher an: eine Gruppe aus fünfzehn Leuten – sieben Frauen, fünf Männer und drei Kinder, die unterschiedlich groß und alt waren. Sie erhielten einen begeisterten Empfang, woraus Kit schloss, dass diese Gruppe dem Fluss-Stadt-Clan bestens bekannt war. Als er dann sah, mit welcher Selbstverständlichkeit die Neuankömmlinge aufgenommen wurden und wie leicht sie sich in das Leben der Gruppe einfügten, kam ihm sogar der Gedanke, dass sie nicht bloß Besucher waren, sondern Teil desselben Stammes, der dieses ausgedehnte Tal bewohnte.
Die Neuankömmlinge bemerkten natürlich auch Kit, und bald schon wurde er unausweichlich zum Gegenstand eingehender Untersuchungen: Begleitet von viel Gemurmel wurde er immer wieder berührt, und man rieb ständig über seine Haut und seinen ungepflegten Bart. Sie schienen von der Farbe und der Beschaffenheit seiner bleichen Haut sowie seines feinen lockigen Haars fasziniert zu sein; und sie amüsierten sich über seine dünne Statur, die kurzen Arme, seine schmalen Schultern und die merkwürdig aufrechte Körperhaltung.
Kaum hatte man diese doch recht handgreifliche Begrüßungsrunde zu Ende gebracht, kam ein zweite Gruppe von Besuchern an: vier kräftige Männer, die einen fünften auf einer
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