Das Knochenhaus
drückte ihre beiden Hände. »Du brauchst niemals Angst zu haben, denn ich werde gut auf ihn achtgeben.«
»Natürlich wirst du das«, erwidert sie und zwang sich zu einem Lächeln.
Bis zum Tagesanbruch war es noch eine Weile hin, als die Kutsche den Bauernhof verließ und in die sanft gewellten Hügel und Täler der Cotswolds hinausrollte. Ihr Bauernhof, der am Rande des Dorfes Much Milford lag, war nur eine kurze Strecke von der Hauptverkehrsstraße entfernt, welche die Städte und Weiler in der Umgebung miteinander verband. Timothy, der Gutsverwalter, fuhr die stark zerfurchte Straße entlang und ließ die Pferde sich im leichten Trab bewegen. Er hatte ein wachsames Auge für alle Löcher, durch die möglicherweise ein Rad oder eine Achse brechen könnte. Arthur öffnete die Tasche, die Xian-Li für sie vorbereitet hatte, und reichte seinem Sohn ein Stück Gerstenkuchen, das durchgeschnitten und mit Butter bestrichen war. Er nahm ein weiteres Stück für sich selbst und lehnte sich in seinem Sitz zurück.
»Papa«, sagte der kleine Benedict nachdenklich, »werden wir Gott sehen?«
»Warum fragst du?«
»Weil du gesagt hast, dass wir hochspringen werden – jenseits der Wolken und Sterne zu einem neuen Ort«, antwortete er und biss von seinem Gerstenkuchen ab. Er kaute einen Moment und merkte dann an: »Das ist da, wo Gott lebt. Können wir ihn sehen?«
Arthur rief sich ein früheres Gespräch mit seinem Sohn in Erinnerung, als er gerade von einer seiner Reisen zurückgekehrt war. Benedict, der damals nur vier Jahre alt gewesen war, hatte wissen wollen, wo sein Vater gewesen war. Und Arthur hatte ihm fröhlich erzählt, er wäre an einem Ort jenseits der Wolken und Sterne gewesen. In seiner kindlichen Art verstand der Junge dies nur als eine weitere Form üblichen Reisens – so wie Menschen eben eine lange Fahrt zu entfernten Orten unternahmen.
»Würde es dich überraschen«, erwiderte Arthur, »zu erfahren, dass Gott nicht gesehen werden kann – auch nicht hoch oben zwischen den Sternen?«
»Warum nicht?«
»Weil er ein Geist ist, und Geister sind unsichtbar. Niemand kann Gott sehen.«
»Pfarrer de Gifftley kann es«, hob Ben hervor. »Er spricht die ganze Zeit zu Gott.«
»Daran zweifle ich nicht«, räumte sein Vater ein. »Aber selbst der Pfarrer sieht Gott nicht mit seinen Augen.«
»Der Pfarrer sagt, wenn man Jesus sieht, dann sieht man Gott«, entgegnete Ben. »Viele Leute haben Jesus gesehen.«
»Nun ja, aber das war vor langer Zeit.« Arthur bereiteten diese kleinen Gespräche viel Freude. Oft wurden dabei seine eigenen Annahmen über das Universum und seine äußerst seltsamen Mechanismen herausgefordert. »Wenn wir eine Reise unternehmen, bei der wir die Kraftlinien nutzen, werden wir Menschen aus anderen Zeiten sehen. Der Mann, den wir besuchen werden, Anen – erinnerst du dich, dass ich von ihm erzählt habe? –, lebte vor sehr langer Zeit.«
»Werden wir ihn sehen?«
»Anen?«
»Nein, ich meine Jesus . Werden wir Jesus sehen?«
»Nein, wir werden ihn nicht sehen.«
»Warum nicht?«
»Nun, weil Jesus an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit gelebt hat als die Menschen, die wir aufsuchen werden.«
Arthur beobachtete, wie sein Sohn sich darüber den Kopf zerbrach, und widerstand dem Verlangen, mehr zu sagen. Lange Zeit war es sein Wunsch gewesen, die Kraftlinie zu finden, die ihn ins Heilige Land während der Zeit Christi führen könnte. Er musste sie immer noch finden, und er wusste, dass sie irgendwo da draußen war. Die Suche ging weiter, und Arthur beruhigte sich mit dem Gedanken, dass seine unermüdliche Kartierung des Kosmos schließlich auch diesen Ort erfassen würde. Zu diesem Zweck zeichnete er immer noch getreulich die Koordinaten der Reisen auf seiner Haut auf – mithilfe seiner Tattoo-Sammlung, die er nach jeder Reise durch den Äther vergrößerte und akribisch verfeinerte. Er sah zu, wie sein Sohn den Gerstenkuchen aß. Eines Tages in naher Zukunft würde er Benedict in die Bedeutung der seltsamen Zeichen einweihen, die seinen Oberkörper bedeckten, und ihn lehren, wie man sie lesen musste: ein Geheimnis, das nur ein einziger anderer Mensch kannte – seine geliebte Frau Xian-Li.
»Wie lange wird es dauern?«, wollte sein Sohn nun wissen.
»Um nach Ägypten zu kommen? Nicht lange. Wie ich dir erzählt habe, geschieht es von einem Augenblick auf den anderen. Es ist bloß die Fahrt zum Absprungort, für die wir all die Zeit benötigen. Doch der Absprungort
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