Das Knochenhaus
Leute werden sie lieben.« Die Menschen, die in das Große Kaiserliche Kaffeehaus kamen, nannte er nur noch selten Kunden, sondern sprach von ihnen als »unsere Leute« – als ob sie Mitglieder seines Stammes oder seiner Familie wären.
»Die Muffins duften wundervoll«, versicherte sie ihm. »Du hast das Rezept in noch nie dagewesener Weise verbessert.«
»Jawohl.« Sein breites, gutmütiges Gesicht strahlte. »Du hast wirklich gute Ideen, Mina.«
Muffins im Prag des siebzehnten Jahrhunderts einzuführen war in der Tat Wilhelminas Idee gewesen. Doch die Gestaltung der Backbleche und die kreative Umsetzung des Rezepts war allein das Verdienst von Engelbert und seiner einzigartigen Backkunst. Seit der Eröffnung des Kaffeehauses hatte der deutsche Bäcker nach und nach immer bessere Backwaren hergestellt; zu gleicher Zeit war sein Selbstvertrauen stetig gewachsen und seine Geschicklichkeit vom Erfolg belohnt worden. Das Geschäft florierte und brachte kontinuierlich hohe Gewinne ein – genug, dass sie inzwischen acht Angestellte beschäftigten: drei Kellnerinnen, die in eine grüne Livree gekleidet waren; zwei zusätzliche Bäcker, die dabei halfen, Kaffeebohnen zu rösten, den Teig zu kneten und Gebäckfüllungen zuzubereiten; eine allgemeine Hilfskraft, die Brennstoff für den Backofen besorgte, sich um das Feuer kümmerte und Botengänge machte; eine Tellerwäscherin und eine Putzfrau. Von dem Moment an, wenn bei Anbruch der Morgendämmerung die Fensterläden geöffnet wurden, bis zu ihrer Schließung während der Abenddämmerung herrschte im Großen Kaiserlichen Kaffeehaus ein geschäftiges Treiben.
Wilhelmina hatte inzwischen die Position einer Geschäftsführerin eingenommen, die dezent und doch mit starker Hand das Unternehmen kontrollierte. Gleichwohl fand sie auch Zeit, sich ihrer jüngsten und notwendigerweise geheimen Leidenschaft hinzugeben: der Erforschung der Leys. Seit ihrer ersten erfolgreichen Reise hatte sie, mithilfe der Kopie von Burleighs Vorrichtung, drei weitere Versuche unternommen, wobei sie zwei neue Leys entdeckte: Der eine führte zu einer öden Wüste aus roter Erde, sich hochtürmenden Felsen und Kakteen, der andere zu einer kahlen, baumlosen, windgepeitschten Steppe unter grauen, niedrig hängenden Wolken. Außerdem hatte sie den Ley, der zuerst von ihr entdeckt worden war, für einen zweiten Ausflug zu jener gewaltigen Kalksteinschlucht genutzt. Obwohl sie immer noch nicht herausfinden konnte, an welchem Ort und in welcher Zeit sie sich dort befand, begann sie nichtsdestotrotz eine wachsende Einsicht in Ley-Reisen im Allgemeinen zu entwickeln – und auch für Feinheiten wie zum Beispiel die mögliche Beeinflussung einzelner Linien. Während sie zunächst nur damit zufrieden gewesen war, die Leys zu kartografieren und zu bestimmen versuchen, wie ein Übergang genau justiert werden konnte, hatte sich Wilhelmina mit der Zeit tiefer gehende Gedanken gemacht über die unglaublichen Möglichkeiten ihrer neuen Nebenbeschäftigung sowie über die damit verbundenen Auswirkungen und Probleme. Was würde beispielsweise geschehen, wenn sie einen »Doppel-Übergang« unternähme – wenn sie also zwei Ley-Linien in zwei verschiedenen Welten benutzen würde, um in eine dritte zu reisen? Sie hatte keinerlei Ahnung, doch sie war nichtsdestoweniger fasziniert von der Möglichkeit. Sobald sie sich bei der Nutzung der ihr bekannten Leys sicher fühlte, würde sie bei ihren Experimenten noch ein wenig mehr wagen.
Nur ganz selten dachte sie daran, in ihre Heimat in London zurückzukehren – und dann auch nur, wenn sie überlegte, sie müsse irgendjemanden beruhigen, der vielleicht wegen ihres Verschwindens besorgt war, oder ihre Angelegenheiten regeln. Dies würde jedoch augenscheinlich bedeuten, dass sie zu dem Ley zurückkehren müsste, der sie in diese Welt gebracht hatte, und diese Stelle war mehrere lange Tagesreisen von Prag entfernt. Wenn der Gedanke an eine Heimkehr sie überfiel, erschien ihr daher eine solche Reise wie eine riesige Quälerei für einen lächerlich geringen Lohn. Zudem war sie sich überhaupt nicht sicher, ob sie zu demselben London zurückkehren könnte, das sie verlassen hatte. Was, wenn etwas mit der Zeit schrecklich schiefliefe? Es gab jedenfalls keine Garantie, dass sie überhaupt in das einundzwanzigste Jahrhundert zurückkommen könnte.
Die einfache Wahrheit allerdings war, dass sie nichts von London und ihrem banalen, mühseligen Leben dort vermisste – erst
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