Das Knochenhaus
erkennen, die sich gegenseitig so fest umklammert hielten, dass die Knöchel ganz weiß waren.
»Möchten Sie, dass ich mit dem Lesen fortfahre?«, fragte Kit, dessen Stimme in die intensiven Tagträume des Mannes hinter dem Schreibtisch drang. »Ist alles in Ordnung?«
»Nein«, flüsterte der Arzt. »Nichts ist in Ordnung.« Er öffnete die Augen und schaute Kit mit einem Ausdruck der Verwunderung und der Verzweiflung an. »Das ist aus einem Buch – meinem Buch. Das ist es, was Ihre Wilhelmina mir hat bringen lassen: als Beweis für ihre Behauptungen.«
»Ja, ich verstehe, aber –«
»Das ist das Problem.« Thomas zeigte mit einem Finger auf die Seite in Kits Hand und machte ein paar stumme Gesten, als ob dies sein eigener Totenschein wäre. »Dieses Buch ist bislang noch nicht veröffentlicht worden. Ja, es ist noch nicht einmal zu Ende geschrieben worden.«
Kit vermochte sich vorzustellen, wie dies ein Problem sein könnte. »Oh«, gab er von sich und bemühte sich, mitfühlend zu klingen. »Ich verstehe.«
Thomas’ Blick wurde eindringlich. »Wirklich? Ich gebe zu bedenken, dass Sie noch nicht einmal die Hälfte verstehen, Sir! Dies hier ...« Er riss Kit die Seite aus der Hand. »Dieses Stück Papier kommt aus einer anderen Welt zu mir – und aus einer Zukunft, die nicht meine eigene ist. Aus einer Welt, in der alles, was ich gedacht und getan habe, bereits vergangen ist – wo ich tot und beerdigt bin und die Dinge, dich ich vor mir sehe, nun verschlissen vom Alter sind und dennoch existieren sollen.« Der Arzt schüttelte wiederholt den Kopf. »Verstehen Sie das trotzdem? Die Zeit ist aus den Fugen geraten, und die Wirklichkeit eine bloße Illusion. Alles was ich über die Welt geglaubt habe, ist eine Fata Morgana, ein Hirngespinst, ein Fantasiegebilde. Meine Arbeit, meine Wissenschaft ... alles wertlos. Wie ...« Seine Stimme nahm eine klagenden Tonfall an. »Wie nur soll ich im Lichte dieser Erkenntnis weiterhin leben?«
DRITTER TEIL
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FÜNFZEHNTES KAPITEL
X ian-Li stieß ihre Hand in die Schale, die sie gegen ihre Hüfte gedrückt hielt. Sie roch den trockenen, süßen, mehligen Duft der aufgebrochenen Getreidekörner, während sie ihre Hand damit füllte. Dann warf sie in einem sehr weiten Bogen die Körner um sich herum. Die Hühner, die bereits zu ihr strömten, gackerten und flatterten, während sie umherhasteten, um die Körner aufzupicken, die Xian-Li verstreut hatte. Das Füttern der Hühner war eine einfache Routinearbeit, dennoch bereitete es ihr große Freunde – zumal sie wusste, dass es etwas war, das ihre Mutter und ihre Großmutter ein Leben lang gemacht hatten. Die einfache Tätigkeit verband sie mit vergangenen, gegenwärtigen und noch kommenden Generationen, und das vermittelte ihr ein angenehmes Gefühl.
»Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde«, sagte Arthur; in seinem Tonfall schwang ein leichter Tadel mit.
Sie drehte sich um und lächelte, als er zu ihr kam und sich neben sie stellte.
»Wir haben Diener für diese Arbeit, weißt du«, erklärte er. »Du bist die Herrin des Hauses. Du brauchst nicht die Hühner zu füttern.«
»Ich finde Vergnügen daran.« Sie warf eine weitere Handvoll Körner über den Kreis aus dicken braunen Hennen. »Und sie mögen es auch.«
Er packte sie am Handgelenk, als sie erneut in die Schale griff. »Deine Hände, meine Liebe«, sagte er und hielt ihr die eigene Handfläche vor das Gesicht. »Sie werden rau. Du machst zu viel.«
»Ich mache, was mir Spaß macht, Ehemann«, entgegnete sie. »Würdest du mir das verweigern?«
Er küsste das Innere ihrer Hand und ließ sie los. Dann wartete er einen Moment, bevor er ihr mitteilte: »Es wird morgen geschehen.« Er spürte, wie sie neben ihm erstarrte. »Ich kann es nicht länger hinausschieben.«
»Aber er ist doch erst sechs Jahre alt«, erklärte Xian-Li. Ihr Gesicht verfinsterte sich, und sie schürzte wie zum Einwand ihre Lippen.
»Er ist alt genug.« Arthur wartete und beobachtete dabei die Hühner. Sie scharrten nach Körnern, die ihnen in der ersten Aufregung der Fütterung entgangen und inzwischen in den Boden getretenen waren. »Wir haben immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Es wird Zeit, dass er seine Ausbildung beginnt.«
»Aber er ist doch noch ein Kind«, klagte sie und setzte sich damit gegen etwas zur Wehr, von dem sie wusste, dass es richtig war.
»Der Junge muss lernen.« Arthur zeigte sich unerbittlich. »Er muss unterrichtet
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