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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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staubbedeckten Gläser sauber zu wischen.
    »Ist das nicht der Grund dafür, dass sie die Mumifizierung perfektioniert haben – um den Körper so lange wie möglich zu erhalten?«, argumentierte Kit. »Haben sie nicht deshalb kunstvolle Grabmäler und Totentempel und Ähnliches errichtet und ihnen schließlich solch gewaltige Ausmaße verliehen?«
    »Im Gegenteil, mein lieber Freund. Sie waren in Wirklichkeit in das Leben verliebt!«, widersprach ihm Thomas und setzte seine Brille wieder auf. »Und was für ein Leben – das Leben in großem Überfluss, das Leben in all seiner wunderbaren Pracht. Der Tod war ein Gräuel für sie. Der Tod war nicht hinnehmbar, obwohl er ein natürliches und allgemeines Phänomen darstellt. Nichts Geringeres als eine tragische Katastrophe: So wurde der Tod angesehen – zum Mindesten als ein unseliger Unfall auf der glücklichen Straße des Daseins. Als ein Unglück, von dem man hoffte, man würde mit der Zeit lernen, es ganz und gar zu vermeiden. Sie suchten genau deshalb nach der Unsterblichkeit, weil sie sich wünschten, das Leben würde für immer und ohne Ende fortdauern.«
    »Das wünschen wir uns doch alle.«
    »Richtig!«, rief Thomas. »Natürlich wünschen wir uns das. Am Ende sind wir doch alle so geschaffen. Ich weiß ja nicht, wie es in Ihrer Zeit ist – vielleicht erfreut sich Ihre Welt einer aufgeklärteren Sichtweise. Aber in diesem gegenwärtigen mechanistischen Zeitalter werden solche Gedanken zunehmend als rückwärtsgewandt und unwissenschaftlich betrachtet.« Mit einem Ausdruck des Bedauerns schüttelte er seinen Kopf. »Zu viele meiner Wissenschaftskollegen unterliegen einer Sichtweise, die jede Religion für überholten Unsinn hält: für Ammenmärchen aus den Kindertagen der Menschheit – mit Dogmen, aus denen wir herausgewachsen sind und die durch den wissenschaftlichen Fortschritt beiseitegefegt werden müssen.«
    »Diese Ansicht ist mir bekannt«, erklärte Kit.
    »Doch sehen Sie hier«, fuhr Thomas fort, dessen Gesicht sich wieder aufhellte. »Im Gegensatz zu dem, was viele denken mögen, ist die Unsterblichkeit kein Märchen, das als Kompensation für ein unglückliches Leben eingeführt worden ist. Es ist vielmehr die Vorstellung – die von nahezu allen fühlenden Wesen geteilt wird –, dass unser bewusstes Leben nicht durch Zeit und Raum beschränkt ist. Wir sind nicht bloß Stücke belebter Natur. Wir sind lebendige geistige Wesen – wir alle fühlen dies von Natur aus. Und ganz tief in unseren Herzen wissen wir, dass wir letztgültige Erfüllung nur in der Vereinigung mit der höchsten geistigen Realität finden können – einer Realität, die uns auch während dieses irdischen Lebens über die engen Grenzen der Zeit hinaus trägt.«
    Kit dachte über diese Worte nach. Obwohl sie seiner eigenen Gedankenwelt etwas fremdartig erschienen, hörte er aus ihnen – als ob sie aus einem fernen Land stammten – einen Wahrheitskern heraus, der zwar auf etwas weit Entferntes verwies, aber nicht zu leugnen war. Zu guter Letzt fragte er: »Glauben Sie, dass wir ewig leben?«
    »Oh, das glaube ich. Und zwar ganz bestimmt. Wie ich bereits gesagt habe – wir sind alle unsterblich.«
    »Richtig, das haben Sie.« Einen Augenblick lang genoss Kit diese Idee und dachte an Cosimo, Sir Henry, seine eigenen Eltern und alle anderen Verstorbenen, die er gekannte hatte. »Es ist ein guter Gedanke.«
    »Und doch erkenne ich, dass Sie weiterhin nicht davon überzeugt sind.« Thomas schürzte seine Lippen und betrachtete Kit voller Skepsis. »Könnte es etwa so sein, wie ich befürchte? Ist in der künftigen Epoche diese Vorstellung in Ungnade gefallen?« Bevor Kit darauf antworten konnte, fuhr der Arzt rasch fort: »Ich fordere Sie zu klarem Nachdenken auf, Mr. Livingstone. Bedenken Sie doch! Bewusstsein ist das, was jeder von uns ist: Wir interagieren mit der materiellen Welt als bewusste Wesen – und sonst in keiner anderen Weise. Ist das nicht so?«
    »Das ist so.«
    »Dann ist Bewusstsein die einleuchtendste Form von Existenz, die es gibt. Sie können es als selbst-evident bezeichnen. Zudem ist Bewusstsein nicht notwendigerweise überhaupt an Materie gebunden. Das ist leicht zu beweisen. Können Sie sich etwa nicht Bilder von weit entfernten Plätzen, Freunden und liebevoll erinnerten Verwandten in Ihrem Bewusstsein vergegenwärtigen – oder von Dingen, die Sie in der Vergangenheit glücklich gemacht haben? Können Sie sich nicht gütige oder grausame Handlungen

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