Das Königshaus der Monster
Höhe herab.
Estella verzog das Gesicht. »Sehen Sie zu, dass Sie hier rauskommen.«
Ich gab mir alle Mühe, sie hochzuhieven, packte sie an den Schultern, suchte nach Halt an den Fettwülsten – kurz gesagt, ich tat mein Bestes, um sie zu retten.
»Hören Sie auf!«, keuchte Estella nach etwa einer Minute dieses grausigen Ringkampfs. »Gehen Sie endlich!«
Als das Gebäude mit einem langsamen Wanken anfing, den Einsturz zu proben, ließ ich die dicke Frau zurück auf den Boden sinken und versuchte, ihr die Lage so angenehm wie möglich zu machen. Ihre Lider flatterten und schlossen sich. Ich küsste sie zweimal auf die Stirn.
Wie auch immer, ich ließ sie jedenfalls dort allein zurück und rannte, als die Mauern rund um mich barsten, zum letzten Mal aus dem Haus Fitzgibbon Street 125 – der Staatlichen Archivverwaltung, Depot und Urkundenregister.
Draußen hatte es zu schneien begonnen. Doch es war kein Schnee, wie ihn jeder von uns kennt: Er war pechschwarz, klebrig und absolut widernatürlich. Als ich auf die Straße trat, hatte sich eine Menschenmenge angesammelt, die ihr Augenmerk teils auf das einstürzende Gebäude und teils auf das Eintreffen des sonderbaren Schneesturms richtete.
Die Leute fingen die Flocken in ihren Händen auf und stellten Vermutungen an, worum es sich dabei handeln könnte. Ein Mann im dunklen Anzug stand abseits des Gedränges am Rand des Gehsteigs und lachte bei dem Anblick. Er lachte und lachte und lachte, bis seine Hysterie zu totaler Erschöpfung führte.
Hinter uns knirschte und krachte das Gebäude und fiel mit einem Donnergrollen in sich zusammen; und es begrub die Frau, die Leviathan unter elf Stockwerken voll Papierkram und verstaubten Akten festgehalten hatte.
Vom London Eye aus verfolgte Dedlock den Schneefall, musste hilflos mit ansehen, wie der Himmel schwarz wurde; es gelang ihm nicht, den nagenden Verdacht abzuwehren, dass das, wovor er sich einen Großteil seines ganzen langen Lebens gefürchtet hatte, schließlich eingetreten war.
Eine Frau betrat seine Gondel. Sie hatte Rache im Blick, Mord im Sinn und etwas Schreckliches in den Händen.
»Wer ist da?«
Schwarze Schneeflocken flogen ans Fenster, wurden zu Tropfen und bedeckten die Scheiben mit einer dunklen Schmiere.
»Wer ist da?«, fragte Dedlock erneut. »Was wollen Sie?«
Barbara trat ins Licht, und obwohl sie lächelte, lag keine Heiterkeit auf ihren Lippen.
»Hallo, mein Süßer«, sagte sie.
Vier Kilometer von ihm entfernt war mein Großvater in der St.-Chad’s-Klinik eifrig dabei, der medizinischen Wissenschaft die Stirn zu bieten.
Im selben Moment, als der Schnee zu fallen begann, gaben seine lebenserhaltenden Geräte ein schrilles Jaulen von sich, er setzte sich auf, und seine Augen öffneten sich weit. Obwohl es kaum zehn Uhr morgens war, verdunkelte sich die Aussicht aus seinem Fenster, und alles draußen war mit schwarzen Flecken übersät.
Ich frage mich immerzu, was er dachte, als er das sah. Ich frage mich, was ihm durch den Kopf ging. Und ich frage mich, ob er schon damals wusste, dass es längst zu spät war – für uns alle.
DREIUNDZWANZIG
Was jetzt folgt, ist meine Transkription einer Aufzeichnung, die ich aus den Resten dessen retten konnte, was einst das London Eye gewesen war. Sie stammt von einer Art Black Box, hervorgebuddelt aus dem Schrott, der von der beliebtesten Attraktion der Stadt übrig blieb.
Als sich das Folgende abspielte, fiel der schwarze Schnee bereits seit zehn Minuten, und mein Großvater hatte seit Kurzem das Bewusstsein wiedererlangt.
Als Barbara ins Licht trat und Dedlock sah, was sie in Händen hielt, verspürte er seit mehr als einem Jahrhundert zum ersten Mal wieder Angst – echte, unverwechselbare, eiskalte Angst.
»Seien Sie vernünftig, meine Liebe!«, gurrte er mit diesem eindringlichen, schmeichlerischen Tonfall in der Stimme, der schon Generationen von Direktoriumsagenten in den Untergang geschickt hatte. »Tun Sie nichts, was Sie später bereuen könnten!«
Barbara tänzelte näher, leichtfüßig und lächelnd wie die Gastgeberin einer Party, die ihre ersten Gäste begrüßt. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Schsch!«, machte sie und sprach ihn mit einem Namen an, den ich nie zuvor gehört hatte.
»So hat mich schon lange niemand genannt!«, zischte der Alte im Tank verärgert.
»Ich frage mich, was wohl der Grund dafür ist.«
»Niemand hat es gewagt!«
»Ach, Sie ziehen ›Dedlock‹ vor?«, fragte
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