Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
Vom Netzwerk:
Kater.
    Ich saß immer noch gefesselt auf dem Stuhl, doch meine Handgelenke waren heil. Sie klebten und scheuerten zwar an den Klebebändern, aber es floss kein Blut. Sie schienen nicht einmal aufgerieben.
    Keine Spur von den Präfekten.
    Ich merkte, dass die Fesseln, die mich am Stuhl festhielten, plötzlich ganz leicht abzustreifen waren. Sie glitten von meinen Händen und Füßen ab wie Seidenbändchen.
    Ich erhob mich auf wackeligen Beinen. Mir war ein wenig übel, und in den Extremitäten spürte ich ein Kribbeln wie von tausend Nadeln, aber ansonsten fühlte ich mich verdächtig unversehrt.
    Ich dachte daran, was Miss Morning mir über Estella erzählt hatte – an den Umstand, dass ihre Wunden umgehend wieder geheilt waren, nachdem das Direktorium sie bis an den Rand des Todes ausbluten ließ. Ebenso erinnerte ich mich an ihre Andeutungen über die Geschichte dieses Hauses, und ich fragte mich, was Mutter wohl in meinem Schlafzimmer entdeckt hatte – welche Bedeutung jenen Zeichen und Symbolen zukam und was genau mir bei all den Operationen, denen man mich als Kind unterzogen hatte, angetan worden war.
    In den nächsten beiden Minuten machte ich den Versuch, alles als Halluzination oder Albtraum abzutun, was sich seit Joes und Abbeys Aufbruch zugetragen hatte, doch tief in meinem Innern wusste ich, dass etwas mit mir geschehen, dass etwas in Bewegung gesetzt worden war. Ich wusste sogar, wie es hieß. Wie alles andere hatte Großvater auch das festgesetzt:
    Das Programm.
     
    Wir wollen uns nicht zu seinen Freunden zählen, doch letzten Endes muss einfach gesagt werden, dass man Henry Lamb übel mitgespielt hatte. Was man ihm antat und was er sich gefallen ließ, war maßlos und unmenschlich. Doch die wahre Tragödie liegt darin, mit welch dumpfer Lethargie er das alles hingenommen hat.
    Und selbst jetzt sind seine Demütigungen noch lange nicht zu Ende.
     
    Ich verließ die Wohnung und ging aus dem Haus. Der Schneefall hatte endlich aufgehört, doch das, was von ihm blieb, hatte London fremd und ungewohnt gemacht. Die Drohnen waren überall. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich spürte, wie sie sich bewegten, wie sie an mir vorbeihasteten, vorwärtshetzten Richtung Zentrum. Sie schienen miteinander zu sprechen, und allmählich konnte ich sie verstehen: der gleiche Singsang an jeder Straßenecke, in jeder Wohnung – dasselbe Wort immerzu wiederholt wie ein Mantra unbändiger Freude.
    Leviathan. Leviathan. Leviathan.
    Doch zum ersten Mal seit Wochen hatte ich keine Angst. So lange schon war Angst Teil meines Alltags gewesen – eine Alarmsirene, von der jede meiner Entscheidungen beherrscht worden war, die meinen Einfallsreichtum erstickt hatte und mein Gewissen verkümmern ließ!
    Ich hatte mich erst ein paar Schritte von der Haustür wegbewegt, als ich ihn sah: Obwohl fast völlig bedeckt vom schwarzen Schnee, erkannte ich ihn dennoch sofort an dem langen, weiß gelockten Haar, das gleich einem winterfesten Rankengewirr daraus hervorkroch, und an der Nase, die aus der Schneedecke ragte wie die einer im Staub begrabenen antiken Statue.
    Der Leichnam meines Großvaters.
    In dem Moment, als die Erkenntnis sich ihren Weg durch meine Gehirnwindungen gebahnt hatte, fiel ich so abrupt auf die Knie, als hätte ich einen harten Schlag in die Kniekehlen erhalten. Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich gab keinen Laut von mir, sondern begann nur, pietätvoll den Schnee von seinem Gesicht zu streichen – ein geduldiger Archäologe, der Zentimeter für Zentimeter die müden, zerfurchten Züge der Statue zum Vorschein bringt.
    Und dann vernahm ich den Schrei aus vielen Kehlen, näher als zuvor.
    »Leviathan! Leviathan!«
    Ich konnte ihre abgerissenen Atemzüge hören und roch den seltsam elektrisierenden, scharfen Geruch ihres Schweißes. Langsam – ganz langsam – sah ich auf.
    Es müssen zumindest zwanzig gewesen sein, die auf mich zukamen wie Hooligans auf einem Jahrmarkt. Wankend und mit geröteten Gesichtern wälzten sie sich dicht gedrängt voran wie jene Menschenknäuel, die zur Hauptverkehrszeit aus den U-Bahn-Türen quellen. »Leviathan! Leviathan!«
    Widerstrebend richtete ich mich auf. »Können Sie das denn nicht abstellen?«, fragte ich einen großen, breiten, bärtigen Kerl in einer Postbotenuniform, der anscheinend die Front anführte. »Versuchen Sie es doch wenigstens!«
    Er knurrte und stürzte sich auf mich. »Leviathan … Leviathan …«
    Ich fragte mich gerade, ob nicht gleich hier und jetzt

Weitere Kostenlose Bücher