Das Königshaus der Monster
Verblüffung glitt ich durch das Gedränge der Touristen hindurch – es war, als besäßen sie nicht mehr Substanz als ein Dunst: irrlichternde Nebelschwaden, die Souvenirs, Digitalkameras und plastikbeschichtete Stadtpläne an sich pressten.
Jasper folgte mir auf dem Fuß ins Innere der Gondel. »Rauch und Spiegelungen …«, murmelte er mir in dem Tonfall zu, mit dem man versucht, ein Kind zu beruhigen, das nachts aus einem bösen Traum hochgeschreckt ist.
Der Innenraum war größer als erwartet. Ich vernahm das leise Zischen, als sich die Tür schloss, und dann begann die Gondel ihren sanften Aufstieg. Der Geruch hier drin erinnerte mich heftig an etwas ganz Bestimmtes – Warzen und auf dem Wasser treibendes Heftpflaster tauchten vor meinem geistigen Auge auf … Ich benötigte einen Moment, um zu begreifen, doch dann hatte ich es: Chlor – der Geruch eines öffentlichen Schwimmbades!
Unser Blick auf London wurde von etwas verstellt, das aussah wie ein großer Wassertank und die halbe Gondel einnahm; ich hatte das Gefühl, als hätte es mich irrtümlich in ein Aquarium verschlagen. Wenn ich hindurchblickte, konnte ich gerade noch, verzerrt und etwas fremd wirkend, die Wahrzeichen der Stadt erkennen – Saint Paul’s, obszön in die Länge gezogen, die Houses of Parliament, schimmernd und zerbrechlich, die Türme der Canary Wharf … all die Zitadellen des Kommerzes, gestreckt und verformt, wie durch die Schlieren im gläsernen Boden einer Flasche betrachtet.
Doch weitaus beunruhigender als dieser Anblick war das, was im Tank schwamm: ein Mann, ein Greis, dessen Haut schrumpelig und voller Falten, Lappen und Leberflecken war. Bis auf eine ausgebleichte orangefarbene Badehose war er nackt und schien unter Wasser dahinzutreiben. Die Sonne stand hinter ihm, und so schien sein uralter Körper von einem Strahlenkranz aus goldenem Licht umgeben.
Ich fragte mich, wie er es anstellte, da drin im Tank unter Wasser zu atmen, ehe ich den Gedanken, es könnte sich hier um einen lebenden Menschen handeln, als völlig absurd beiseiteschob.
Doch dann – obwohl ich wusste, dass es unmöglich war – sprach der alte Mann! Seine Lippen bewegten sich unter Wasser, und trotzdem verstand ich ihn so deutlich, als hätte er neben mir gestanden. Seine Stimme klang tief, schwermütig, alt und voll seltsamer Modulationen.
»Willkommen, Henry Lamb!«, sagte er – und er sagte es so herzlich, als wäre er mir seit Langem schon verbunden, als reiche unsere Bekanntschaft Jahre um Jahre zurück. »Mein Name ist Dedlock; dies ist das Direktorium. Und Sie wurden gerade zwangsverpflichtet.«
SECHS
»Wir vom Direktorium warten nicht auf Freiwillige.« Der Mann, der sich Dedlock nannte, grinste mir zu, während er sich unter Wasser mit einer Kraft auf und ab bewegte, die sein offensichtliches Alter Lügen strafte. »Sie sind jetzt einer von uns.«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber kein Wort kam heraus. Stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich den Oberkörper des Alten anstarrte, fasziniert von einer Reihe Hautfalten, die sich über seine Brust zogen – weiße Gewebelappen, die, wie erfüllt von eigenem Leben, sichtbar pochten und pulsierten.
Kiemen?
Der Mann konnte doch, um Himmels willen, keine Kiemen haben?!
Dedlock blickte mich finster an. »Wir befinden uns mitten im Krieg. Und ich fürchte, wir stehen auf der Verliererseite.«
Seit etlichen Minuten war mein Mund zu trocken zum Sprechen. Jetzt endlich gelang es mir, einen Satz hervorzuquetschen: »Krieg? Wer ist im Krieg?«
Der Alte versetzte der Glaswand des Tanks einen gewaltigen Hieb. Jasper und ich machten unwillkürlich einen Satz rückwärts, und ich fragte mich, was wohl geschähe, wenn das Glas brechen und das Wasser herausstürzen würde; ob Dedlock dann wie ein an Land geworfener Karpfen zappeln und um sich schlagen würde? »Ein heimlicher Bürgerkrieg tobt in diesem Land seit einem halben Dutzend Generationen. Diese unsere Organisation ist alles, was zwischen dem britischen Volk und seinem Verderben steht.«
Ich war eingeschüchtert. »Das verstehe ich nicht.«
»Das ist auch nicht notwendig. Von nun an befolgen Sie einfach nur die Anordnungen. Zumindest das verstehen Sie doch, oder?«
Ich erinnere mich undeutlich, genickt zu haben.
»Erzählen Sie niemandem, was Sie hier gesehen haben. Es gibt kaum zwei Dutzend Personen auf der Welt, die Ziel und Zweck des Direktoriums kennen.«
Ich raffte mich zu einem Einwand auf. »Und was
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