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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Barnes
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große gerahmte Bild an der gegenüberliegenden Wand; es zeigte mich als Kind – ein altes Foto aus der Werbung für Worse Things Happen at Sea –, mit vorstehenden Zähnen und Sommersprossen, aufgenommen inmitten meiner Bemühungen, wieder einmal auf irgendeine Aufforderung hin ein unechtes Grinsen für die Kamera aufzusetzen. Einen Augenblick lang stand ich wie angewurzelt da und starrte es an. Wenn ich Dinge von damals sehe, ist es mir, als hätte ich am Dasein eines anderen Anteil – als beobachtete ich Ereignisse, die irgendjemand durchlebte, dem ich nie persönlich begegnet war, sondern den ich nur aus Zeitschriften kannte.
    Es fiel mir auf, dass das Foto ein wenig schief hing. Der Kater verdrehte den Kopf nach oben, als betrachte er es auch und missbillige die schlampige Anbringung. Er begann zu miauen.
    »Schon gut«, sagte ich. »In einer Minute kriegst du dein Futter.«
    Ich trat an das Bild heran und versuchte, es gerade zu richten, doch es schien auf einer Seite schwerer zu sein und weigerte sich, meinen Bemühungen Folge zu leisten. Ärgerlich nahm ich es vom Haken.
    Das war der Moment, in dem ich spürte, dass hier irgendetwas weitaus gravierender aus dem Gleichgewicht geraten war: Ich fühlte sozusagen die ersten Regungen des Wurms im Innern des Apfels.
    Hinter der Fotografie befand sich eine Platte aus glattem grauem Metall. Sie hatte keine Scharniere oder Öffnungen, wenn man von etwas absah, das wie ein kleines, innen gezacktes Schlüsselloch aussah. Auch dieses Ding stellte etwas völlig aus dem Rahmen Fallendes dar – ein weiteres Rätsel im Haus meines Großvaters.
    Es klingelte an der Haustür.
    Der Kater maunzte erschrocken, rannte zwischen meine Füße und blieb zitternd dort hocken. Und auch ich verspürte einen unsinnigen Anflug von Furcht.
    Nach sekundenlanger Pause klingelte es ein weiteres Mal. Nach einem letzten Blick auf die Metallplatte trottete ich nach unten und öffnete die Tür.
    Draußen stand Mister Jasper, der Mann mit dem Kindergesicht.
    »Hallo, Henry.«
    Ihn ausgerechnet hier, an diesem Ort, zu erblicken, war so abwegig, dass es mir kurz die Sprache verschlug.
    »Wir benötigen Ihre Hilfe«, sagte er. »Bitten Sie mich doch ins Haus.«
    Der Kater war mir nach unten gefolgt und hockte wiederum zitternd vor Angst zwischen meinen Füßen.
    »Was tun Sie hier?«, presste ich schließlich hervor.
    »Wollen Sie mich nicht einlassen?« Aus Mister Jaspers Mund klang es wie etwas völlig Alltägliches, durchaus Logisches – so als hätte dieses ungerechtfertigte Eindringenwollen in das Haus eines alten Mannes absolut nichts Ungewöhnliches an sich.
    »Ihr Großvater hat gewisse Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Hier und in der Klinik. Wir brauchen Ihre Hilfe.«
    »Meine Hilfe? Was, zum Henker, wollen Sie von mir ?«
    »Lassen Sie mich erst einmal ein, Mister Lamb.«
    »Nein!«, rief ich; plötzlich hatte ich Angst. »Ich glaube, Sie sollten jetzt verschwinden. Sie befinden sich unerlaubt auf fremdem Boden.«
    In einer Grimasse, die ein Lächeln vortäuschen sollte, bleckte Jasper die Zähne. Bei diesem Anblick wand sich der Kater zwischen meinen Beinen hervor und schoss davon.
    »Sind Sie mir gefolgt?«
    »Sie werden es bereuen, wenn Sie mich nicht ins Haus lassen!«
    »Gehen Sie.« Meine Stimme zitterte ein wenig. »Oder ich rufe die Polizei.«
    »Ach, Mister Lamb, wir stehen über der Polizei.«
    Und dann tat er etwas sehr Eigenartiges: Er hob ruckartig den Kopf und starrte grimmig nach oben ins Leere. »Da stimme ich Ihnen zu, Sir«, sagte er, und nichts an seinem Verhalten ließ darauf schließen, dass er mit mir sprach. »Ich dachte auch, er sehe besser aus.« Sein Blick glitt kurz über meine Gestalt. »Und schlanker, ehrlich gesagt. Und sauberer .«
    »Mit wem reden Sie?«, fragte ich.
    Jasper lächelte. »Ich werde jetzt gehen«, sagte er. »Aber denken Sie daran: Was immer als Nächstes geschieht, Sie haben es sich selbst zuzuschreiben.«
    Er drehte sich um und schritt davon. Ich lauschte dem Klacken seiner teuren Schuhe auf dem Pflaster, bis es vom Lärm der Stadt verschluckt wurde (dem Rumoren des Straßenverkehrs, dem Heulen von Sirenen, dem hektischen Klopfen der Bässe einer Autostereoanlage) und nichts mehr von Jaspers Anwesenheit zeugte, nichts mehr darauf hinwies, dass er nicht nur ein hiesiges Phantasieprodukt war.
     
    Als ich am nächsten Morgen erwachte, benötigte ich ein Weilchen, um mir alles ins Gedächtnis zu rufen, was seit Dienstag vorgefallen war. Und

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