Das Königsmal
großes Unglück für Tilly. Dieses Höllenfeuer kann keiner gewollt haben. Die Kriegsherren müssen jede Kontrolle über die Ereignisse verloren haben.“
Diese Antwort war ihr kein Trost gewesen. Die Katastrophe lag zwar mehr als ein Jahr zurück, trotzdem schien es ihr, als hätte sie erst gestern davon erfahren. Noch immer beherrschten die Gräuel- taten die Gedanken der Menschen. Gerüchte über Zeichen kursierten, die vor dem Untergang der Stadt gewarnt hätten. Manche Einwohner behaupteten, sie hätten in den Tagen vor dem Sturm auf die Stadt glühende Feuer am Himmel beobachtet. Unwetter seien aufgezogen, und in den Viehherden hätte es seltsame Geburten gegeben. Ein Kalb mit zwei Köpfen und ein Ferkel mit fünf Beinen hätten die baldige Ankunft des Antichristen verkündet.
Wiebke musste an diese unheimlichen Vorzeichen denken, als sie Christian nach der Zukunft des Schwedenkönigs fragte. Inzwi- schen hatten sie ihren Spaziergang beendet und sich ins schattige Halbdunkel des Lusthauses zurückgezogen.
Christian schwieg. In Gedanken schien er einige Züge auf dem vor ihm stehenden Schachbrett durchzuspielen, bevor er bedächtig antwortete.
„Gustav Adolf hat jede Art des Kämpfens, jede militärische Tradition erschüttert. Der König hat sich Seite an Seite mit seinen Soldaten in die Schlacht geworfen und seine Kommandos nicht vom sicheren Feldherrenhügel aus gegeben. Er handelt immer überraschend und hat das starre Regelwerk der kaiserlichen Feldherren vorgeführt. Aber nun scheint es doch, als hätte sich der Löwe aus Mitternacht selbst eine Grube gegraben. Er sitzt in der Falle.“
„Wenn der Schwede in Gefangenschaft gerät oder gar getötet wird, ist jede Hoffnung für die Unsrigen dahin.“
Wiebke, die bequem auf einem Diwan geruht hatte, richtete sich wieder auf. Sie zog Christian zu sich, suchte seine Nähe. Der König setzte sich neben sie und legte seine Arme um sie. Leise, so als wolle er sichergehen, dass kein fremdes Ohr seine Worte vernahm, flüsterte er: „Ich habe es dir nie erzählt, Wiebke, aber ich weiß, dass er sterben wird.“
Wiebke schrak zurück. „Du weißt …?“
„Ich habe es gespürt, als wir uns getroffen haben – nein, als wir auseinandergegangen sind. Ich habe seine Hand gedrückt und plötzlich gewusst, dass mich Gustav Adolf nicht überleben wird. Von ihm strahlte etwas ab, etwas Eisiges wehte mich an und hat mich in meiner Gewissheit bestärkt, dass der Löwe den Adler nicht bezwingen kann. Ich bin mir sicher, Nürnberg ist sein Untergang.“
Bestürzt sah Wiebke ihn an. „Aber das ist schrecklich. Dann fällt das Deutsche Reich doch in die Hände der Habsburger und es gibt keine Hoffnung.“
„Es gibt immer Hoffnung, Wiebke. Vor allem bedeutet das Hoffnung für Dänemark. Ein schwedischer Kaiser, ein schwedisches Großreich hätte unser Land für immer in die Bedeutungslosigkeit gestürzt.“
„Aber du kannst nicht auf seinen Tod hoffen, Christian.“ Sie schluchzte auf. Empört rückte sie von ihm ab und unterdrückte nur mühsam ihren Zorn. „Die Zukunft so vieler gequälter Menschen liegt in seiner Hand.“
„Unsere Zukunft liegt in den Händen Gottes. Amen“, wies Christian sie barsch zurecht. Er blickte sie tadelnd an, als sei sie ein kleines Mädchen.
Wiebke schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht glauben, Christian. Ich kann nicht glauben, wie kalt dich ein Menschenleben lässt, das Leben des protestantischen Retters.“
Wiebke war aufgestanden. Sie zitterte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Noch nie hatte sie Christian so kühl und stur erlebt.
Auch der König hatte sich erhoben. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, und sein Schweigen füllte den Raum, der doch zu ihrer Heiterkeit errichtet worden war.
„Es tut mir leid, Wiebke. Aber als König der Dänen und Norweger gilt mein Mitgefühl an erster Stelle meinem Volk.“
Noch immer konnte sie nicht sprechen.
„Ich bin mir sicher, du wirst es verstehen. Verzeih mir.“ Schulterzuckend beendete Christian das Gespräch und verließ das Lusthaus. Im Türrahmen zeichnete sich sein Umriss hart vor dem strahlenden Sonnenlicht ab.
Wiebke blieb sprachlos zurück – zornig zunächst, dann wurde sie von Traurigkeit übermannt. Es ist das erste Mal, dass wir im Streit auseinandergehen, dachte sie. Sie wäre Christian gerne nachgelaufen, doch sie zwang sich zu warten. Haltung zu wahren. Ich kann seine Meinung nicht teilen, dachte sie. Vielleicht sehe ich den Kern
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