Das Königsmal
nach“, gestand sie. „Und manchmal glaube ich auch, ihr Gesicht in einer Menschenmenge zu sehen. Ich versuche, sie zu rufen, aber sie kommt nicht zu mir.“
„Vertrau auf Gott, Wiebke“, murmelte ich. „Vertrau auf Gott.“
Sie sah mich lange an, so als ob sie mich fragen wollte, welchen Gott ich meinte. Den Gott, der all dieses Leid zuließ, das über die Deutschen gekommen war. Oder die himmlische Macht, die Wunder vollbrachte wie die Liebe, wie auch unsere Liebe.
Doch Wiebke schlug die Augen nieder, dann wechselte sie das Thema. „Und meine Familie“, setzte sie an. „Werde ich meinen Vater noch einmal sehen?“
Ich wusste, welch enges Verhältnis sie als Kind zu ihrem Vater gehabt hatte. Dass sie in vielen Nächten von ihm träumte, von den Jahren in Barl.
„Ich sehe den Fluss vor mir, wie er durch das Dorf fließt. Wir angeln und lachen, und unser Gelächter zieht mit dem Wasser bis zum Meer.“
„Ach, Wiebke“, seufzte ich. Ich konnte ihr keinen Rat geben. So viele Briefe waren in die Heimat geschickt worden und ohne Antwort geblieben. Einmal war sie mit dem König nach Bramstedt gereist. Sie hatte gehofft, vertraute Gesichter zu sehen, eine Schwester, einen Bruder, ihren alten Vater gar, doch niemand war gekommen, sie zu umarmen.
„Wie anders ist diese Stadt ohne herzlichen Empfang und warme Worte“, klagte sie bei ihrer Rückkehr, und Tränen bahnten sich ihren Weg. „Warum denken sie schlecht von mir?“
Zum ersten Mal sah ich Müdigkeit in ihren Augen. Das goldene Strahlen in ihnen war überschattet von Enttäuschung. Ich nahm sie in den Arm, und Christian Ulrich, der uns beobachtet hatte und auf seinen kurzen Beinen herangesprungen kam, drängte sich eifersüchtig zwischen uns. Wiebke lachte, nahm ihn auf den Arm und roch an seinen samtenen Wangen. Mit leiser Stimme flüsterte sie in sein Ohr: „Vielleicht habe ich das, worum ich kämpfe, schon lange verloren.“
DAS GIFT
Glückstadt, Sommer anno 1632
Ich bin ein anderer Mensch, dachte Kirsten Munk. Leise sprach sie ihre neue Anrede vor sich her: „Madame Anna von Christensen …“ Sie hatte sich für ihr Inkognito einen viel weicher und verspielter klingenden Namen gewählt. Und doch war er einfach genug, dass sie nicht über die fremden Silben stolperte.
„Guten Tag, Anna von Christensen“, murmelte sie noch einmal und sah zufrieden in den kleinen Handspiegel.
Der Name kleidete sie, die intime, genüssliche Betonung von Anna, die sie sich zurechtgelegt hatte, passte zu ihrer neuen, dunkel gefärbten Haarpracht. Die weniger aufwendige Frisur, die schwarz umrandeten Augen und die einfache, aber elegante Reisekleidung hatten sie in eine unbekannte Amazone verwandelt. Die Gräfin war sich sicher, dass man sie in Glückstadt nicht erkennen würde – nicht auf den ersten Blick. Es war schließlich Jahre her, dass sie sich in der Stadt aufgehalten hatte.
Trotzdem wollte sie vorsichtig sein. Sie hatte sich dafür entschieden, als Ehefrau eines wohlhabenden dänischen Kaufmanns aufzutreten. Begleitet von ihrem Mädchen, zwei bewaffneten Dienern und einem Kutscher. Das Personal sollte in der Stadt verbreiten, Madame suche für ihren Mann nach vielversprechenden Geschäften.
Nach der beschwerlichen Reise, die sie auf dem Landwege un- ternommen hatte – die Erinnerungen an Laesø ließen sie noch immer zittern, wenn sie nur an ein Schiff dachte –, war sie in einem Gasthof in der Stadt untergekommen. Die Zimmer waren wenig komfortabel, aber ihre Pläne konnten nun mal keine Rücksicht auf irgendwelche Vorlieben nehmen. Aber die Pelzdecke, einige zusätzlich aufgestellte Kerzen und ein Orangenduft, den sie seit Neuestem bevorzugte, hatten das dunkle Zimmer in der Großen Kremper Straße immerhin schon eine Spur erträglicher werden lassen.
Wenn sie aus dem Fenster des im ersten Stock liegenden Raums schaute, konnte sie auf den Marktplatz der Stadt blicken. Sie war erstaunt, wie lebhaft es dort zuging. Sie hatte Glückstadt als trostlosen Ort in Erinnerung. Ja, sie hatte Christian sogar ausgelacht, als er seine Idee von dieser Stadt in den stinkenden Elbschlick gerammt hatte. Aber nun sah sie mit eigenen Augen, dass seine Saat aufgegangen war.
Blickte man auf die Marktstände und beobachtete das Handeln und Feilschen der Verkäufer und Käufer, wähnte man sich in einer ganz und gar bedeutenden Metropole. Dort unten sah sie nicht nur die hellen, nordischen Gestalten, Marschbauern mit breitem Buckel, sondern auch südländische
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