Das Königsmal
sie. Meine eigene Angst kam mir in den Sinn. Meine Angst, die mich jedes Mal befiel, wenn die Gräfin ihren Galan empfing. Und meine Hilflosigkeit, die mich so wütend machte.
„Sie ist doch ein Scheusal“, flüsterte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob Wiebke mich verstanden hatte. Ich hielt sie weiter im Arm, und ihre Wärme strahlte auf mich ab. Aus ihrem Haar strömte ein frischer Apfelduft, der mich sanft und scheu machte. Als ich merkte, dass Wiebke eingeschlafen war, ließ ich sie vorsichtig auf das Laken sinken. Dann legte ich mich dazu, mein Herz klopfte und ein Glücksgefühl durchströmte mich wie ein Schluck köstliche, warme Milch.
Ich konnte nicht schlafen, und so zog die Nacht langsam an mir vorbei, bis sich die zögernden Strahlen der Morgensonne in meine Kammer tasteten. Da wusste ich, dass ich viel mehr als die Schwester gefunden hatte, die ich mir als kleines Mädchen immer gewünscht hatte.
DER STEIN
Hameln, Ende November anno 1625
Etwas war anders. Der König blieb stehen und wunderte sich. Stille. Kein Geräusch war aus der Kinderstube zu hören, aus der um diese Zeit für gewöhnlich aufgeregte Stimmchen drangen. Neugierig lauschte er an der hohen Flügeltür, dann öffnete er sie vorsichtig und spähte durch den Spalt in den Saal.
Sein Blick fiel auf das herrliche Durcheinander von Spielzeug, das sich auf dem Parkett zu wunderlichen Paarungen zusammengefunden hatte. Winzige Spielzeugsoldaten aus Zinn lagen neben Porzellanpuppen, ihre Kanonen auf deren kirschrote Herzmünder gerichtet. Das lange Springseil war kunstvoll um Stühle und Tisch geschlungen, und bunte Tücher bedeckten hölzerne Schwerter und Schilde.
Vor dem Kamin hatten sich die Kleinen in einem Berg von Kissen niedergelassen. Mit großen Augen lauschten sie Wiebke, die sich zu ihnen gekniet hatte und – er horchte in den Raum – vom Rattenfänger erzählte. Als sie an das Ende der düsteren Sage kam, rückten die Kinder noch enger zusammen:
„Der Rattenfänger aber kehrte zurück in Gestalt eines Jägers mit schrecklichem Angesicht und einem roten, wunderlichen Hut und ließ, während alle Welt in der Kirche versammelt war, seine Pfeife abermals in den Gassen ertönen. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an, in großer Anzahl gelaufen. Diese führte er, immer spielend, zum Ostertore hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Nur zwei Kinder kehrten zurück, weil sich diese verspätet hatten. Von ihnen war aber das eine blind, sodass es den Ort nicht zeigen konnte, das andere stumm, sodass es nicht erzählen konnte. Es waren ganze hundertdreißig Kinder verloren.“
„Wiebke, Wiebke, wo sind sie herausgekommen?“, fragte Eleonore Christine ängstlich.
„Man erzählt sich, die Kinder wären in Siebenbürgen wieder ans Licht gekommen“, antwortete Wiebke und strich der Kleinen über das lange Haar.
Auch Christian hatte davon gehört, dass die Mär auf die Auswanderung vieler Bürger in östliche Siedlungsgebiete zurückging. Kopfschüttelnd wunderte er sich, wie die holsteinische Zofe an dieses Wissen gelangt war.
„Das ist wohl richtig“, bemerkte er von der Tür aus, trat ins Zimmer und begrüßte seine Kinder mit Küssen. „Die Stadtkinder sollen nach Mähren, Ostpreußen oder Pommern gezogen sein, wo ihre Nachfahren heute noch leben. Doch sag, Wiebke, wie hast du davon gehört?“
„Man erzählt sich die Geschichte auch bei uns in Holstein, Majestät. Und als ich ein Kind war, wollte ich wissen, ob die armen Mädchen und Buben für alle Ewigkeit in der Dunkelheit bleiben mussten. Der Schulmeister hat mir dann diese Antwort gegeben. Als wir nach Hameln kamen, fragte ich hier im Hause nach“, antwortete sie und errötete leicht. Schnell drückte sie die blonde Eleonore an sich und wandte sich wieder den Kindern zu. „Wollt ihr noch eine Geschichte hören?“
„Ja, ja, bitte“, antworteten die Kinder im Chor, und ihre Stimmen überschlugen sich vor Aufregung. Christian befreite einen der Stühle aus den Schlingen des Springseils und setzte sich für einen Moment dazu. Seine Augen wanderten zu Wiebkes schönem Profil. An der Stirn bemerkte er die letzten Spuren der unseligen Verletzung, die Kirsten ihr auf der Steinburg zugefügt hatte. Eine fein geschwungene, rote Linie vernarbter Haut, fast wie ein C, die sie bis an ihr Lebensende an die Wut der Gräfin erinnern würde.
Das Heer und nach ihm die königliche Familie waren
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