Das Königsmal
Er hatte sie kränken wollen, sie, die ihn schon so lange mit ihrer Kälte kränkte. Wann hatte er das letzte Mal bei ihr gelegen? Es musste noch im Winter gewesen sein, vage erinnerte er sich an das Gefühl der schweren Pelzdecke auf seiner Haut. Doch dieses Spiel war seiner unwürdig. Ärgerlich hieb seine rechte Faust auf den Tisch, an dem betretenes Schweigen herrschte.
Wenn doch nur diese bleierne Müdigkeit nicht wäre, die ihn schier um den Verstand brachte. Es musste ein Ende nehmen mit den Albträumen, bevor durch die schrecklichen Bilder alle Kraft aus ihm herausgesogen worden war. Er hatte gehofft, dass das Ecce homo helfen konnte. Wenn er den Gemarterten tagsüber nur oft genug betrachtete, sollte ihn sein Blick in den Nächten verschonen können. Doch die mahnenden Augen verfolgten ihn weiterhin.
Die Tür öffnete sich und Wiebke trat in den Saal. Sie entschuldigte die Gräfin, sie habe sich mit Kopfschmerzen zu Bett begeben. Dann knickste sie und wollte sich zurückziehen, doch Christian bat sie erneut an die Tafel.
„Wenn uns die gnädige Frau nicht mit ihrer Anwesenheit erfreut, so soll uns dein Anblick trösten“, versuchte er zu scherzen.
Verlegen setzte sich das Mädchen und nickte in die Runde. Zögernd setzten die Männer ihre Gespräche fort. Nach einer Weile herrschte wieder Unbefangenheit am Tisch. Tatsächlich hatte die kleine Wäscherin den Bann gebrochen. Pogwisch und Rothkirch griffen durstig zu ihren Bechern, Fuchs verlangte nach einem weiteren Stück Schinken, das er mit Appetit aß. Was macht nur ihren Zauber aus, dass in ihrer Gegenwart alles Dunkle zu Staub zerfällt, fragte sich Christian verblüfft.
Während er sein Mahl beendete und dem Kriegskabinett zuhörte, das weitere Kuriermeldungen diskutierte, wanderten seine Augen immer wieder an das andere Ende der Tafel. Wiebke saß beinahe unbeweglich da, nur ab und an spießte sie mit ihrer Gabel ein wenig Kompott auf. Dann führte sie das Essinstrument vorsichtig zum Mund. In ihren Händen wirkte das sonst so überflüssige Gäbelchen wie das Werkzeug eines himmlischen Wesens.
Während Christian mit den Augen dieser Bewegung folgte, die sie mit leicht gesenktem Kopf ausführte, konnte er kaum glauben, dass er dieses Mädchen vor nicht einmal einem Jahr an einer Waschbrücke aufgelesen hatte. Ich habe einen Schatz gehoben, durchfuhr es ihn verblüfft, dort wo ich keinen suchte. Und er dach- te an die bislang vergebliche Suche seiner Ingenieure nach Silber, hoch im Norden in den Minen bei Numedal am Isfoss.
Schon lange fühlte er sich zu Wiebke hingezogen. Ihre Gestalt, ihr Wesen hatten ihn mit der plötzlichen Gewissheit erfüllt, dass es das Schöne doch gab. Rein und unschuldig, unbefleckt von allem Kriegsgräuel, von Bosheit und Kalkül. Und nach dem Unfall war sie es gewesen, die ihn wie ein Engel an der Schwelle zum Leben empfangen hatte. Nicht Kirsten hatte ihn mit tränennassen Augen begrüßt, sondern ihre Zofe. Und Fueren hatte ihm erzählt, dass das Mädchen Tag und Nacht an seinem Bett gewacht und seine Hand gehalten hatte. Kein Wunder, dass er keine Lust mehr nach dem selbstsüchtigen Fleisch seiner Frau verspürte.
Wenn sie doch nur noch einmal so nah bei ihm sein konnte. Er stellte sich keinen Kuss vor, keine von vergänglicher Begierde entstellte Szene. Ihm kam eine Pietà in den Sinn, wie sie die Italiener so meisterlich abbildeten. Der vom Kreuz genommene Gottessohn in den Armen Marias. Erlöst von seinem Schmerz, geliebt und betrauert. Er wollte sie nicht anrühren, sie sollte sein Schutzengel sein. In diesem Moment traf ihn ein schüchterner Blick Wiebkes. Ihre Augen schienen etwas unendlich Kluges zu sagen, doch er konnte es nicht deuten.
DER TOD
Lutter am Barenberge, Ende August anno 1626
Das Warten auf das, was nie zu geschehen scheint, hat endlich ein Ende, dachte Christian. Plötzlich fühlte er sich erleichtert, als wäre eine schwere Last von seinen Schultern genommen. Er straffte den Rücken und blickte zurück. Hinter sich sah er das Heer, sein Heer: fünfzehntausend Männer. In einigen Gesichtern las er Seligkeit, in anderen Todesangst.
Sie stehen vor einem Kampf, der schrecklicher sein wird als alles, was sie bislang erlebt haben, ging es ihm durch den Kopf, und er fühlte, wie sich Schweiß unter seinem Helm sammelte und langsam die Stirn hinabrann. Ein Rinnsal seiner Ängste, die von ihm flossen. Vielleicht steht man nur einmal im Leben vor diesem einen Moment. Vor dem Triumph oder … Er
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