Das Königsmal
Städten – all ihre Bewohner in Erwartung des Schreckens. Menschen auf der Flucht, verlassene Anwesen, Kadaver, Leichen. Und kein Ort, um zu trauern.
Kein Wunder, dass Wiebke für unseren Raum kein Gefühl mehr hatte. Sie hatte sich bislang an Bekanntem orientiert, an Flüssen, Ortschaften, der Sprache der Menschen. Das Meer hatte alle Koordinaten ihrer Welt verschoben. Und so zeichnete ich ihr eine Karte unseres schönen Dänemark auf – frei, aus dem Kopf, so wie es mein Vater mir beigebracht hatte. Ich setzte Städte und Inseln hinein, gab den Konturen einen Namen. Dann das Deutsche Reich, das Heilige. Dieses zerzauste Gebilde, das sich zwischen dem Kirchenstaat im Süden und Dänemark im Norden erstreckte, zwischen Frankreich im Westen und Polen im Osten. Ein Gedränge von Herzogtümern, geistlichen Gebieten und freien Städten. Ich schraffierte und schraffierte, setzte ein Geflecht von Linien.
„Das ist Deutschland?“, fragte sie und verglich das Wirrwarr mit den klaren Strukturen Dänemarks. „Ich wusste, dass der Ritt von einem Ende zum anderen einen Monat dauert. Aber ich wusste nicht, dass man so viele Grenzen passieren muss. So viele Herrscher mit eigenen Ansprüchen und Vorstellungen.“
Immer weiter nach Norden waren wir gereist, und das Elend war uns gefolgt. Wiebke hatte große Angst, sie sorgte sich um ihre Familie.
„Was ist mir dir, Johanna?“, wollte sie wissen. „Für wen betest du?“
Doch da war niemand mehr. Meine Eltern waren vor Jahren gestorben.
„Für dich“, antwortete ich, heiß vor Verlegenheit.
Wiebke schaute mich an, legte ihre Hand auf meine.
„Uns“, sagte sie. „Uns.“
Ein unerschütterliches Glücksgefühl durchströmte mich.
Dann Dalum – ein winziger Punkt im Reich Seiner Majestät, und doch war es der Mittelpunkt für einige Zeit. Wir umsorgten die Gräfin, die Kinder und fanden uns. Erzählten uns aus unserem Leben – das, was wir mochten, und das, was wir fürchteten. Leuchtende Erinnerungen und namenlose Ängste.
Wir schlichen uns in die Schreibstube, und ich zeigte Wiebke, wie man die großen Karten las. Wie man Entfernungen bemaß, Hindernisse erkannte. Wenn sich die Gräfin zu ihren Vergnügungen davonstahl und mich nicht vermisste, kroch ich zu Wiebke ins Bett und wir erzählten uns von unseren Träumen. Wir waren uns so nah, näher noch als Schwestern sich sein können. Trotzdem war da ein Punkt in ihrer Landschaft, den ich nicht deuten konnte.
„Du hast schon immer gewusst, wohin dein Weg dich führt“, staunte ich über ihren Mut, dem König zu folgen, über ihren Willen, das Leben auszukosten. „In deinem Dorf wärst du ein unglückliches Weib.“
„Ach, Johanna.“ Sie lachte mich an. „Sei nicht albern.“ Dann wurde sie ernst: „Was ist nur dieser Krieg? Was hat Gott darin zu suchen? Es ist alles von Menschen gemachtes Unglück, nicht göttlicher Wille.“
„Sei still!“, sagte ich erschreckt. „Das sind ketzerische Worte.“
„Wie kann ein Wort, das Erklärung sucht, lästerlich sein?“, fragte sie zurück, und wir verloren uns leise flüsternd in allen Unerklärlichkeiten.
Wir sprachen über alles, nur nicht über den Mann, der uns zusammengeführt hatte und der uns doch trennte: über den König.
DER LÖWE
Dalum auf Fünen und Stralsund, Januar anno 1628
Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Als ob ein Vögelchen in ihr nistete, das sich schüttelte und aufplusterte. Von innen pickte es gegen ihre weiße, weiche Haut. Spürst du mich? Spürst du mich? Doch sie wusste, dass tief in ihr keine Amsel trippelte, kein Spatz seine Flügel spreizte. Es war ein Kind. Ottos Kind.
Zum ersten Mal in ihrem mit Samt gepolsterten Leben verspürte Kirsten Munk tiefe Verzweiflung. Warum nur ist dieser Leib so fruchtbar wie der einer Katze, dachte sie bitter, als sie morgens wieder die bekannte Übelkeit quälte. Warum nur ist dieses Kind so stark, fragte sie sich wenig später hasserfüllt, als kein ätzender Trank, kein kochend heißes Bad, kein Sprung in die Tiefe gegen das Balg half, das sich in ihr eingenistet hatte. Inzwischen hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, gegen ihren Leib zu schlagen, wenn sie seine Bewegungen spürte. Als ob sie das Vogelwesen verscheuchen könnte. Doch nun rundete sich ihr Bauch bereits. Lange konnte sie die Schwangerschaft nicht mehr vor ihren Zofen verbergen. Genauso wenig wie vor dem König.
Was sollte sie tun? Sie konnte das Kind unmöglich ihrem Mann zuschreiben. Christian hatte seit mehr
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