Das Königsmal
als einem Jahr seine Erfüllung nicht mehr bei ihr gefunden. Und als er sich vor einigen Monaten nachts in ihr Bett geschlichen hatte, war sie am frühen Morgen entsetzt geflüchtet. Sie hatte den Druck seiner Schenkel und seinen Atem in ihrem Nacken einfach nicht ertragen können. Warum nur hatte sie seinem Verlangen nicht nachgegeben? Kirsten blickte in den großen, ovalen Spiegel, der über ihrem Toilettentisch hing. Lichtpunkte tanzten auf seiner Oberfläche und blendeten sie. Sie schloss die Augen.
Ich hätte mich für die Dauer des Aktes bloß aus meinem Körper hinausstehlen müssen, dachte Kirsten. Schritt für Schritt fort von dem, was mit mir passiert. Ich hätte meine Gedanken auf einen Spaziergang zum Rheingrafen schicken und meinen Körper dem Mechanismus des Aktes überlassen können, überlegte sie. Öffne deine Arme, spreize die Beine, schließe die Augen, folge den Bewegungen, den Bewegungen. Sei ein Schiff, das sich treiben lässt, das der Strom immer schneller mit sich reißt, bis das Wasser über dir zusammenschlägt und die Erschöpfung dich erlöst. Und wenn Christian sich neben sie gerollt hätte, wäre sie zurück in ihren Leib geschlüpft, um ihn mädchenhaft anzulächeln. Eine kleine Anstrengung nur, doch sie hätte ihre Zukunft gesichert. Jetzt stand ein schreckliches Wort im Raum: Hochverrat. Nichts anderes war es, das Kind des Rheingrafen auszutragen.
Schon bei den Zwillingen hatte sie furchtbare Ängste ausgestanden. Doch Christian war verwirrt gewesen, nach der Schlacht bei Lutter nicht Herr seiner selbst. Nichts hatte er geahnt, nichts hinterfragt. Ein oder zwei in seiner Erinnerung treibende Nächte hatten ihm zur Bestätigung seiner Vaterschaft genügt. Und als sie Christiane und Hedwig aus sich herausgepresst hatte, waren sie ihm offensichtlich wie zwei Glück bringende Seelen erschienen, die sich plötzlich, aber willkommen in sein Leben drängten.
Nun aber quälte sie sich seit Wochen damit, wie sie den Verdacht des Ehebruchs von sich abwenden konnte. Sie grübelte den ganzen Tag, schreckte mitten in Nacht hoch, war blass und abgespannt. In ihren Träumen sah sie finstere, gesichtslose Reiter auf sich zujagen, die sie packten und mitrissen. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, und bei jedem unerwarteten Geräusch zuckte sie erschrocken zusammen. Ihre Hände mit den zerbissenen Nägeln konnten keine Nadel halten, ohne verräterisch zu zittern, sodass ihre kunstvollen Stickereien bald in irgendwelchen Ecken landeten.
Den Zofen war der reizbare Zustand ihrer Herrin nicht entgangen und sie huschten verschreckt um die Gräfin herum. Alberne Geschöpfe, dachte Kirsten. Auch diese Morgentoilette war eine Farce. Wiebke half ihr beim Ankleiden und schloss gerade eine komplizierte Leiste winziger Perlmuttperlen. Dabei tat sie so, als bemerke sie nicht, dass der pralle Bauch und die hervorquellenden Brüste kaum noch in das Mieder des Seidenkleides zu zwängen waren.
Kirsten hasste die Schnürbrust, diese steife Mode, die sie sich wie eine Gefangene in ihrer eigenen Kleidung fühlen ließ. In der Front war das Korsett mit einem kräftigen Holzstab verstärkt. Die Planchette wurde vorn in das Mieder geschoben, um eine edle, gerade Linie zu betonen. Manche Frau versüßte sich die Qual und ließ sich Liebesschwüre von ihrem Verehrer hineinschnitzen, die dann dem Herz der Angebeteten nahe waren. Doch darauf gab sie nichts. Sie hatte die Briefe des Rheingrafen und die Erinnerungen an ihre Lust, die sich in ihrem Kopf zu immer neuen Fantasien zusammenfanden.
Sie hörte die Zofe leise seufzen, als sich eine der Perlen wieder aus ihrer Verankerung löste und der Stoff höhnisch aufsprang. Plötzlich schossen ihr die Tränen in die Augen, und sie legte ihre Hand resigniert auf Wiebkes.
„Wir sollten ein anderes Kleid probieren“, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen. „Einen weicheren Stoff, der fließend fällt und meine Linien nicht zu sehr betont.“
Überrascht sah Wiebke auf, dann seufzte sie wieder – erleichtert.
„Madame haben vollkommen Recht. Ich werde schauen, was ich in den Truhen finden kann.“
Sie begann die Perlen und Schnüre wieder zu lösen, hielt jedoch kurz darauf schon wieder inne. „Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?“, fragte sie und wagte es, ihrer Herrin direkt in die Augen zu blicken. „Kann ich Euch helfen?“
Kirsten spürte, dass sie jeden Moment weinen müssen würde. Dumme Tränen, die sie nicht vor dem Personal vergießen
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