Das kommt davon, wenn man verreist
am ehesten hätte entbehren
können. Als sie endlich schlief, mußte ihr Nachbar vom Fensterplatz auf die
Toilette. Das bedeutete, zweimal die Sitzreihe räumen, einmal bei seinem Auszug
und einmal bei seiner Wiederkehr.
Danach hatte sie einen schweren Traum. Sie war
bei der Familie Taschner und mußte ihre getäfelten Zimmer mit dem Polierballen
handpolieren. Jede Wand einzeln. (Jetzt wußte sie endlich den Grund für die
Einladung nach Mexiko.)
Als ihre verkrampft kreisende Hand den rechten
Sitznachbarn an der Nase erwischte, weckte er sie und erkundigte sich, ob sie
das mit Absicht gemacht habe. Rieke entschuldigte sich vielmals und war ihm
dankbar, daß er sie geweckt hatte. »Stellen Sie sich vor, ich mußte in Mexico
City getäfelte Wände handpolieren!«
»Ja, ja«, sagte der Dicke, »da drüben nehmen sie
die Arbeiter noch nach Strich und Faden aus!«
Um sechs Uhr früh wurde, einem dringenden
Bedürfnis abhelfend, ein leicht versalzenes Abendessen serviert. Mit Mixed
Pickles. Anschließend landete die Maschine zwischen — auf einem kleinen,
schäbigen Flughafen oberhalb New Yorks. Es goß, es zog kalt, es war gemütlich
wie in einer Lagerhalle, es war hier zwei Uhr früh. Und es war das erste Mal in
Riekes Leben, daß sie den Beton eines anderen als des europäischen Kontinents
unter den Füßen spürte.
Was war das Reisen doch heutzutage romantisch.
Beim letzten Check-up ihres Äußeren befiel sie
plötzlich loderndes, herzpuckerndes Lampenfieber, gewürzt mit Reue.
Natürlich freute sie sich sehr auf Bob und Pepe.
Aber da waren ja nicht nur Bob und Pepe, sondern auch ihre Familie, bei der sie
wohnen sollte. Der Gedanke, vierzehn Tage lang ein wohlerzogenes, umsichtiges,
für die großmütige Einladung in seiner Dankbarkeit nimmermüdes Mädchen mimen zu
müssen, versetzte sie plötzlich in Panik.
Das Dumme war nur, daß ihr diese Überlegung
nicht in Berlin gekommen war, sondern erst jetzt, beim Anflug auf Mexico City.
F
ast alle Passagiere wurden abgeholt. Die einen von
den Reiseleitern ihres Touristikunternehmens, die Einzelreisenden von ihren
Freunden und Verwandten. Ein Reiseleiter für 19 Personen. 19 Familienangehörige
für einen Verwandten.
Lachen, Rufen, Umarmungen, Freudentränen...
Friederike sah zu, bis in die Knochen gerührt. Anderer Leute Emotionen gingen
ihr immer sehr zu Herzen. Bloß was war mit ihrer eigenen Begrüßung? Wann fand
diese endlich statt?
Sie hatte fest damit gerechnet, daß Bob und Pepe
sie abholen würden, wenigstens Bob...oderPepe...Aberso gar keiner?
Vielleicht hatten sie auf dem Wege zum Flughafen
eine Panne gehabt oder waren in einen Verkehrsstau geraten.
Rieke wartete eine halbe Stunde und ahnte doch
die ganze Zeit, daß keiner mehr kommen würde.
Das war die erste Enttäuschung an ihrem Ankunftsmorgen.
Es folgte umgehend die zweite.
Sie wurde nicht nur nicht abgeholt, es wollten
sie auch keine Taxis mitnehmen. Obgleich sie ihnen gestikulierend vor den
Kühler sprang.
Warum hielten sie nicht? Sie sahen nicht so aus,
als ob sie auf Fahrgäste verzichten könnten. Manche klapperten wie Skelette im
Windkanal.
Rieke schloß sich einer Gruppe von Mexikanern
an, die mit Zetteln um einen Ordner warben. Er wies sie in vorfahrende Taxis
ein. Rieke wollte auch eingewiesen werden, verdammt noch mal, aber der Ordner
ließ sie nicht. Lieber Himmel! Hatte sie die verzwickten Aufgaben der Juxrallye
lösen können, müßte es ihr doch auch gelingen, das Geheimnis mexikanischer
Taxibräuche zu ergründen.
Als sie sich immer hilfloser um sich selbst zu
drehen begann, kam ein bärtiger Amerikaner daher. Er trug seinen Reisesack so
gebuckelt wie ein Atlas seinen Berliner Stuckbalkon.
»What’s wrong, honey?«
Rieke packte klagend ihre Nöte vor ihm aus.
»Listen, honey. Das ist ganz einfach. Du gehst
zur Bank und wechselst dir Geld ein, dann gehst du zum Taxischalter und kaufst
dir ein Ticket, dann suchst du dir ein Sammeltaxi, das in die Richtung fährt,
wo du hin mußt. Klar?«
»Und warum der ganze Umstand?«
»Neue Sicherheitsmaßnahme. Damit du ohne Umweg
durch halb Mexiko da landest, wo du hin willst.« Fünfzehn Minuten später saß
Rieke in einem Taxi, in dem schon zwei andere Fahrgäste Platz genommen hatten.
Sie sahen so aus wie die Bösewichte in amerikanischen Western, die ja sehr
häufig von Mexikanern gespielt werden müssen.
Im ganzen war eine Stunde seit ihrer Landung
vergangen. In dieser Stunde hatte Friederike Birkow all ihre Illusionen
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