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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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bezahlte er mit seiner Kreditkarte. Ich dankte ihm, fühlte mich aber unwohl dabei. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich verbuche das unter Spesen! Es genügt nicht, dass Sie sich den Schädel rasieren, Vigo. Wenn Sie wirklich einen neuen Kopf wollen, dürfen Sie nicht zögern, alles zu verändern … Und natürlich nehme ich Sie nur so angezogen nach Paris mit. Ich habe einen Ruf zu verlieren! Im Übrigen sind Ihre alten Klamotten dermaßen verdreckt, dass man sie verbrennen sollte.«
    Nach einer zweistündigen Einkaufstour verstaute ich meine vielen Tüten in dem neuen Koffer, und wir machten uns auf zum Bahnhof, ließen das bunte Bild der Côte d'Azur hinter uns, um nach Paris zu fahren.
    Unterwegs erhielt Louvel mehrere Anrufe, sicher von anderen Mitgliedern der Gruppe SpHiNx. Jedes Mal erhob er sich und ging ans Ende des Waggons, um die anderen Fahrgäste nicht zu stören oder vielmehr, damit niemand, und vor allem ich nicht, seine Gespräche mithören konnte. Als ich ihn mit seinem Handy sah, musste ich unwillkürlich an Agnès denken. Wie gern hätte ich sie angerufen. Ich stellte mir ständig ihr Gesicht, ihren Blick und ihre Stimme vor. Ich schaute in die Ferne, den Kopf an die Scheibe gelehnt, und verlor mich in meinen Erinnerungen.
    Agnès. Place Clichy. Das Wepler. Vollkommene Stille. Wohin ich auch blicke, überall sehe ich dein Lächeln. Du kannst sagen, was du willst, tausend Gründe suchen, mir zu entfliehen, ich weiß, dass du für mich diesen kleinen Unterschied empfunden hast, der alles ändert. Diese Tatsache, die das Herz akzeptiert und die Seele ignoriert – oder wenigstens tut sie so. Ich habe es in deinem Blick gesehen, in deinen Seufzern vernommen, und sogar zwischen den Zeilen deiner letzten Nachricht habe ich den Funken erraten. Ich fühle mich genauso schlecht wie du, da uns die Gegenwart entgeht, denn für uns beide gibt es kein Jetzt. Ich weiß nicht, ob ich dich eines Tages wiedersehen werde, ob ich dich irgendwo wiederfinden werde, ob es diesen Ort und diesen Augenblick gibt, und nichts quält mich mehr als dieses Nichtwissen. Für immer werde ich dieses Nichtstattfinden als Ungerechtigkeit spüren. Die Lebenslinie, die wir nicht verfolgen konnten. Jede Sekunde, die ich fern von dir verbringe, ist eine lebenslängliche Strafe. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich dich nicht an mich drücken kann, dass ich dich in den Armen eines anderen wähne, was mein unbändiges Verlangen, dich zu besitzen, weckt, oder daran, dass ich es nicht über die Lippen brachte, dir meine Liebe zu gestehen, was ich unendlich bedauere, oder daran, dass ich dich nicht anrufen kann, was mich unendlich quält. Ich weiß nicht, ob ich mich selbst belüge, ob es die Selbstgefälligkeit des Unglücks ist, aber verdammt noch mal, ich leide!
    Je mehr ich versuche, dich zu vergessen, desto deutlicher wird die Erinnerung an dich. Ich weiß genau, dass es lächerlich ist, dass es keine Seelenverwandten gibt, dass das ein Mythos ist und dass es sicher Tausende anderer Liebesgeschichten gibt, die wir erleben könnten, du, ich, aber das ist nur die Sprache der Vernunft, und das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt. Nicht alles unterliegt der Vernunft. Es gibt auch noch etwas anderes. Diese riesige Kraft, die man nicht erklären kann. Ich pfeife darauf, vernunftbegabt zu sein, ich pfeife darauf, vernünftig zu sein, dich will ich, ich will unsere Liebesgeschichte erleben, jetzt, wider alle Umstände. Du fehlst mir. Du bist dieser dumpfe Schmerz am Ende aller Wege, die meine Erinnerung durchläuft, und du bist nicht mehr da.
    »Alles in Ordnung, Vigo?«
    Ich zuckte zusammen.
    »Wie bitte?«
    Damien Louvel musterte mich besorgt.
    »Geht es Ihnen gut?«
    Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Wange, um meine Tränen abzuwischen.
    »Ja, es geht.«
    »Sie müssen völlig am Ende sein, mein Alter.«
    »Sicher.«
    Weshalb nannte er mich ›mein Alter‹? Er war doch ungefähr zehn Jahre älter als ich. Es war bestimmt liebevoll gemeint. Oder es lag vielleicht an meinem Blick, der von einem vorzeitigen Alter zeugte.
    »Was Sie gerade durchmachen, das kann niemand begreifen. Niemand sollte so etwas erleben müssen.«
    Ich stieß einen Seufzer aus.
    »Machen Sie sich keine Sorgen, es geht schon. Eine kleine Anwandlung von Müdigkeit.«
    Louvel lächelte. Er war nicht auf den Kopf gefallen. Sein Blick verriet mehr Verständnis, als ich erwarten konnte. Auch er hatte einiges hinter sich, das verriet sein

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