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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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das Sehvermögen der Soldaten verbessern?«
    »Ja. Oder es wäre möglich, den Soldaten unempfindlich gegenüber dem Leiden der anderen zu machen, indem man Areal 11 hemmt, was gleichzeitig andere Bereiche der Wahrnehmung verstärkt.«
    »Ich verstehe … tatsächlich ist ja nichts so ideal wie ein Soldat, der für das Leiden anderer unempfänglich ist.«
    »Das Problem besteht darin, dass beim Spielen mit diesen Arealen Halluzinationen hervorgerufen werden könnten. Aber es gibt unzählige vorstellbare Szenarien. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Armee an den künftigen Anwendungen der TMS besonders interessiert wäre. Noch ein Beispiel: Eine Stimulation der motorischen Hirnregion könnte den Aufbau der Muskulatur fördern. Könnt ihr euch das vorstellen? Mit einfachen magnetischen Stimulationen über einen bestimmten Zeitraum könnte man ungewöhnlich kräftige Soldaten bekommen. Ganz ohne Muskelaufbautraining.«
    »Wie praktisch.«
    »Ja. Und warum sollten sie nicht durch ein Einwirken auf den Corpus amygdaloideum, einer unter der Hirnrinde liegenden Region für die Emotionen, eine Hyperaggressivität erzeugen? Weißt du, bei der Armee muss man auf alles gefasst sein.«
    Keiner von uns zweifelte daran.
    Es folgte ein längeres Schweigen. Jeder verarbeitete die Menge an Informationen, die uns die Wissenschaftlerin gerade vermittelt hatte. Als sie merkte, dass wir unseren Gedanken nachhingen, nutzte sie die Situation, um sich nebenan mit Lucie zu unterhalten. Louvel und ich warfen uns mehrere Male Blicke zu, die unzählige Gefühle ausdrückten. Jetzt war alles klar, und was die Erklärungen der Wissenschaftlerin vermuten ließen, war erschreckend.
    Trotz allem fiel es mir schwer, das zu verdauen. Mir vorzustellen, dass alles der Wahrheit entsprach. Ich hatte so viele Jahre in Unwissenheit gelebt. Und die retrograde Amnesie machte nichts leichter. Es macht einen großen Unterschied, ob man seine Vergangenheit begreift oder sich daran erinnert. Obwohl diese Erklärungen völlig einleuchtend waren, fühlte ich mich immer noch als Fremder mir selbst gegenüber, als Beobachter eines anderen Ich, als ob all das ein anderer erlebt hatte. Oder vielleicht war es ein Mittel des Selbstschutzes. Ich konnte es immer noch nicht ganz glauben.
    Die Klingel am Tor unterbrach meinen inneren Monolog. Lucie ging den kleinen Steinweg hinunter, um die Pizzas in Empfang zu nehmen. Wir setzten uns an den Tisch. Ich zwang mich zu essen, weil ich spürte, dass ich Hunger hatte, aber mein Kopf war anderswo.
    »Liéna«, sagte Damien, als er mit seinem letzten Stück Pizza fertig war, »du hast vorhin von Halluzinationen gesprochen. Glaubst du, dass diese Art von Experimenten, die die Armee eventuell machen würde, bei Soldaten auch auditive Halluzinationen hervorrufen könnten?«
    Ich blickte auf. Was erwartete er zu erfahren? Dass die Stimmen, die ich hörte, letztlich nur einfache Halluzinationen waren? Ich hatte seit langem die Gewissheit, dass es nicht so war. Und Louvel hatte gesagt, er glaube mir. Ich fühlte mich durch seine Frage unwillkürlich gekränkt, dabei war sie durchaus berechtigt. Und wir durften keine Möglichkeit außer Betracht lassen. Vielleicht war ich einfach psychologisch nicht bereit zuzugeben, dass ich nur ein einfacher Schizophrener war. Und wenn das stimmte, hatte ich kein Recht, die Augen davor zu verschließen. Wir suchten schließlich die Wahrheit, um jeden Preis.
    »Natürlich«, erwiderte Liéna zu meiner großen Enttäuschung. »Es sind die Hirnrindenareale 41, 42 und 22, die im Augenblick auditiver Halluzinationen aktiviert werden. Wenn man damit Unfug treibt, ist alles möglich. Mit der Gehirnlandkarte weiß man genau, dass diese drei Areale bei den Schizophrenen während ihrer auditiven Halluzinationen aktiviert werden.«
    Das war wie ein Messerstich mitten ins Herz. Meine Gewissheit fiel mit einem Schlag in sich zusammen. Aber ich konnte es nicht akzeptieren. Es war nicht möglich. Die Sätze, die ich gehört hatte, waren wirklich. Ich hatte doch den konkreten Beweis dafür. Mit Agnès. Mit Reynald. Transkranielle Augen. Täuschten mich meine Erinnerungen? Nein. Das war nicht möglich. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Und wieder entglitt mir die Realität. Und wieder kamen der Zweifel, die Ungewissheit.
    Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Damien legte die Hand auf mein Knie und drückte es. Aber ich brauchte mehr als den Trost eines Freundes. Ich brauchte Gewissheit. Ich brauchte

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