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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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abzuwarten, ohne ein Wort zu äußern – denn keines hätte Sinn gemacht –, eilte ich zum Ausgang und schnappte mir auf dem Weg meinen Anorak vom Kleiderständer.
    »Vigo«, rief Louvel. »Was ist los?«
    Aber ich hatte die Tür bereits hinter mir geschlossen.
    Ich durchquerte in aller Eile den Hof. Meine Schritte wurden nicht mehr von der Vernunft gelenkt, sondern von einer Art Instinkt. Und dieser Instinkt verlieh mir Flügel.
    Draußen existierte die Welt nicht mehr. Die Passanten hatten kein Gesicht mehr, die Straße hatte keine Farben mehr, es gab keine Geräusche mehr, der Himmel war nicht mehr oben und die Erde nicht mehr unten. Es gab nur noch mich und diesen unstillbaren Durst.
    Ich rannte geradeaus, und meine Schritte brachten mich wie mit einem eigenen Verständnis ausgestattet zu einem weißen Taxi.
    In der Ferne hörte ich die erstickte Stimme des Mannes, der Vigo Ravel gewesen war.
    »Fahren Sie mich bitte zum Innenministerium.«
    Während der gesamten Fahrt löste sich mein Bewusstsein unaufhörlich von mir, glitt über mich und unter mich. Ich wurde von rein geistigen Emotionsaufwallungen überrollt, von Erinnerungen, die mir vielleicht gehörten, von Bildern, Tönen, den Gipfelpunkten der letzten Tage, die erlebt zu haben ich mir nicht mehr ganz sicher war, Wahrheiten und Lügen, deren Saft sich so gut vermischte, und dann die Zweifel und Gewissheiten … Und wieder Zweifel und dann erneut Zweifel und dann wiederum Zweifel, Gewissheiten und dann Halbgewissheiten. Und zu Ihrer Rechten, meine Damen, meine Herren, der berühmte SEAM-Turm, der einstürzt und damit wiederum Gewissheiten. Ich sah die Wohnung meiner falschen Eltern in völliger Unordnung, meinen Kopf verkehrt herum, im Dreieck, meinen tätowierten Arm an einem anderen Ende und meine Beine, die über Guernica baumelten. Ich hörte Reynalds Satz, und ich wurde ein transkranielles Auge. Und dann die Frage: Wenn man sicher ist, dass eine Lüge eine Lüge ist, wird sie dann eine Gewissheit? Ich meinte: Kann man den Lügen mit geschlossenen Augen vertrauen? Denn als Wahrheiten sind die Lügen nicht sehr glaubwürdig, aber kann man als Lügen auf sie zählen? Und als ob das nicht ausreichte, vermischten sich die Stimmen. Die Stimme meines Chefs, die Vorwürfe von Agnès, der Streit zweier Erwachsener, die sich auf den Vordersitzen eines grünen Kombi zerfleischten. Und weil das immer noch nicht ausreichte, spürte ich die Hand einer Unbekannten, die, im hinteren Teil einer angesagten Diskothek über meine Hüften strich und dann zwischen meine Schenkel, um zu prüfen, ob ich Begierde spürte, und dann, weil das entschieden immer noch nicht reichte, empfand ich den Schmerz in meiner Brust, den Einschlag der Kugel, und ich sah uns in den unterirdischen Räumen von La Défense sterben, ihn und mich, dich und mich.
    Alles erlosch, und ich war tot, einfach um zu sehen, wie das ist.
    Als der Taxichauffeur mir sagte, dass wir angekommen seien, liefen mir Tränen über die Wangen, und ich scherzte, denn es war mir offensichtlich zur Gewohnheit geworden, aber ich war ein Mann, und Männer weinen nicht oder existieren nicht mehr, und auch wenn der Homo sapiens aussterben sollte, ist dies kein Grund, aufzuhören zu weinen.
    Das Taxi hielt an der Place Beauvau. Der Chauffeur drehte sich besorgt nach mir um – mit der Miene eines Chauffeurs, der sich sicher ist, dass der Fahrgast nicht bezahlt. Ich ertrug einen Moment lang seinen Blick, um sicherzugehen, dass ich da war, weil er mich ansah. Dann reichte ich ihm einen Schein.
    Draußen brachte mich ein Windstoß wieder zu mir selbst, und ich war wieder eine Einheit. Mein Herz begann zu hämmern, und mit jedem Herzschlag kam ich der Realität etwas näher. Plötzlich wurde mir bewusst, dass das alles lächerlich war. Dass Farkas sicher nicht als Einziger für das verantwortlich war, was mit mir geschehen war, und dass sich vermutlich an meinem Leben, an meiner Zukunft, nichts ändern würde, wenn ich ihm die Stirn bot.
    Und doch musste ich ihn sehen.
    Ich musste dem Gesicht meiner Zerstörung ins Auge sehen. In den Spiegel sehen.
    Unfähig aufzugeben, denn ich war bereits zu weit gegangen, um den Rückzug anzutreten, lief ich auf den Eingang des Innenministeriums zu. Ich betrat das alte Gebäude aus weißem Stein und passierte die Sicherheitsschranke. Ich trug keinen Gegenstand aus Metall bei mir. Der Wachmann ließ mich durch und grüßte. Ich hatte nicht mal mehr Angst, erkannt zu werden. Im Grunde

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