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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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genommen machte ich mich lustig über das, was mir passieren könnte. Wenn man mich erwischte, brauchte ich mein Schicksal nicht mehr selbst auszuwählen. Man würde es für mich erledigen, und die Frage nach der Zukunft hätte nicht mehr die geringste Bedeutung. Auf jeden Fall war ich nicht Vigo Ravel.
    »Guten Tag. Ich möchte zu Farkas.«
    Die Dame am Empfang starrte mich ungläubig an.
    »Bitte?«
    »Wo ist sein Büro?«
    Ihre Kollegin neben ihr ließ ein irres Kichern hören.
    »Aber … tut mir leid. Der Herr Minister empfängt nicht einfach so. Worum geht es denn? Vielleicht kann ich Sie zu der Stelle bringen, die …«
    »Nein, ich will Farkas sehen. Und zwar sofort.«
    Die Empfangsdame hatte aufgehört zu lächeln. Ich bemerkte zwei Polizisten, die sich langsam näherten, alarmiert durch den Ton meiner Stimme.
    »Hören Sie, Monsieur«, sagte die junge Frau mit unerträglicher Herablassung, »ich schlage Ihnen Folgendes vor: Sie schreiben ihm und erklären den Grund Ihrer Anfrage …«
    »Nein«, unterbrach ich sie wütend. »Sie verstehen mich nicht. Ich muss ihn sprechen, auf der Stelle.«
    Ich spürte, wie einer der Polizisten eine Hand auf meinen Arm legte.
    »Alles in Ordnung, Monsieur?«
    »Ich möchte den Minister sprechen.«
    Der Bulle runzelte die Stirn. Ich wurde mir selbst der Lächerlichkeit meiner Forderung bewusst, und doch konnte ich nicht anders, als ob ich es einem Teil meines Ichs schuldig wäre. Und zweifellos hatte ich jene Stufe der Verzweiflung erreicht, auf der die Welt nicht mehr so viel Sinn hat und man bereit ist, sich in den nächsten Abgrund zu stürzen, wenn es nur den Sturz verkürzt.
    »Ich bitte Sie zu gehen, Monsieur«, murmelte der Polizist und zeigte auf die Tür.
    »Lassen Sie mich in Ruhe!«, knurrte ich und schüttelte seine Hand ab.
    Ich wandte mich eilends wieder der Empfangsdame zu und griff nach dem Hörer ihrer Telefonanlage.
    »Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, es geht um das Protokoll 88. Sagen Sie ihm, ich möchte mit ihm über das Protokoll 88 reden.«
    Dieses Mal verstärkte der Polizist den Druck seiner Hand auf meinem Arm und drängte mich nach hinten. Ich wehrte mich, aber sein Kollege eilte ihm zu Hilfe.
    »Ich möchte den Minister sprechen. Sagen Sie es ihm. Erwähnen Sie das Protokoll 88«, wiederholte ich mit einer Stimme, die ich selbst nicht mehr kannte.
    Die beiden Polizisten hoben mich vom Boden hoch und trugen mich zum Eingang.
    »Du wirst dich beruhigen, mein Freund, und brav nach Hause gehen.«
    Vergeblich versuchte ich, mich zu befreien. Als wir draußen waren, packte mich einer der Polizisten an der Schulter.
    »Sie verschwinden jetzt sofort, oder ich nehme Sie fest, ist das klar?«
    Ich antwortete nicht. Mein Atem ging schwer, mein Blick war leer, ich hörte ihn nicht mehr.
    »Los, verschwinden Sie hier und seien Sie froh, dass wir kein Theater machen.«
    Er hielt mich für einen Psychopathen, einfach für einen Psychopathen.
    Der Polizist stieß mich weg und sah mich herausfordernd an. Ich seufzte. Ich wusste ganz genau, dass es keinen Sinn machte, noch länger hier herumzulungern. Ich hatte eigentlich keinen Augenblick lang geglaubt, dass ich diese Verzweiflungstat erfolgreich durchführen könnte. Ich war wie ein Jugendlicher, der sich mit einem Plastikmesser die Pulsadern aufzuschneiden versucht.
    Ich entfernte mich ein paar Schritte vom Ministerium. Dann ließ ich mich auf eine Bank fallen, außer Sichtweite der beiden Polizisten, die sicher draußen stehen geblieben waren.
    Ich betrachtete das Gebäude aus der Ferne. War Farkas überhaupt darin? Und wenn ich ihn getroffen hätte, was hätte er mir sagen können? Welche Antwort hätte ich in den Augen dieses alten Mannes gefunden? War er wirklich der Mann, der zu sein ich ihm vorwarf? Unser mörderischer Vater? Inwieweit trug er die Verantwortung für das, was mir zugestoßen war? Erinnerte er sich heute noch daran? Hatte er Skrupel, empfand er Bedauern?
    Ich war nicht sicher, ob es irgendwo eine Antwort gab, die meinen Qualen ein Ende hätte setzen können. Ich hatte den Eindruck, es würde mir immer gehen wie diesen Eltern, deren Kind verschwunden ist und die über Jahre nicht trauern können, weil sie nicht wissen, ob es lebt oder tot ist.
    Ich hob den Blick bis zur letzten Etage des Ministeriums und schüttelte den Kopf. Farkas war vielleicht dort, hinter einem Fenster. Aber das war nicht mehr wirklich von Bedeutung. Vielleicht täuschte ich mich sogar in meiner Suche, und ich suchte

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