Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
Vom Netzwerk:
zum Bewusstsein anderer, wäre ohne dieses Verhältnis individuell nichts und könnte sich letztlich nicht einmal selbst kennenlernen. Für Sartre ist der andere unerlässlich für die eigene Existenz oder zumindest für das eigene Bewusstsein. Das nennt man Intersubjektivität, ein schönes Wort. Aber das ist eine recht dogmatische Antwort, nicht wahr?
    In Wahrheit muss man ehrlich sein. Es hat keinen Sinn, Ausflüchte zu suchen. Es ist nett, dass du uns beruhigen willst, Jean-Paul, aber das Problem, den anderen kennenzulernen, ist unlösbar. Ich kann nicht in das Bewusstsein des anderen eindringen, Punkt. Und im Übrigen, wenn das der Fall wäre, würden mein Bewusstsein und das des anderen zu einem verschmelzen, so dass es keinen Sinn mehr hätte, vom anderen zu sprechen.
    Ich stelle mir also die falsche Frage, und wenn ich sie mir weiterhin stelle, wird mein Kopf explodieren. Das wäre schade.
    Es geht nicht darum, herauszufinden, ob ich den anderen kennenlernen kann. Die Frage ist vielmehr, ob ich fähig bin, ihn zu erkennen in seinem Anderssein. Und genau da liegt die Herausforderung: das Anderssein und den Unterschied zu lieben.
    Ich muss mich dazu entschließen. Wir müssen uns alle dazu entschließen. Das Anderssein ist keine Bedrohung und noch weniger eine Verarmung, das Anderssein ist eine Bereicherung. So einfach und so schön ist das. Der Unterschied und der Abstand zwischen meinem Bewusstsein und dem des anderen sind notwendig, um durch den Austausch die Bereicherung zu ermöglichen. Man kann nicht austauschen, was identisch ist. Nur das, was anders ist.
    Ich pfeife darauf, euch kennenzulernen. Ich pfeife darauf, dass ihr mich kennenlernt. Erkennen wir uns.
84.
    Chanteclair war eines dieser vielen Jagdschlösschen, nur wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt, die noch zum Landbesitz des Staates gehörten.
    Das Taxi hatte mich vor dem großen schwarzen Eingangsgitter abgesetzt. Das Schlösschen, verloren inmitten des Waldes von Fontainebleau, schien von der Welt abgetrennt zu sein, weit weg von den Städten, weit weg von den Menschen. Unterwegs waren wir niemandem begegnet, und ich war ergriffen von der bleiernen Stille ringsherum.
    Ich ging auf das Tor zu. Auf einem Steinpfeiler entdeckte ich eine Sprechanlage ohne jegliches Schild, und darunter flackerte das Objektiv einer winzigen Videokamera. Mich fröstelte. Ich musste unwillkürlich wieder an die Kamera denken, die ich bei meinen falschen Eltern gefunden hatte. An das winzige Objektiv, das mich dort unten beäugt hatte, anonym. Ich überwand meine Scheu und läutete. Stille. Und dann hörte ich statt einer Reaktion ein leichtes Knacken. Da niemand Lust zu haben schien, etwas zu sagen, nannte ich lediglich meinen Namen.
    »Vigo Ravel.«
    Sofort machte es klick, und dann öffneten sich behutsam und geräuschlos die beiden großen Flügel des Gitters. Ich zögerte einen Augenblick, irgendwie verkrampft ob der Förmlichkeit und Dramatik dieses geheimnisvollen Treffens. Aber es gab kein Zurück.
    Als das Tor weit geöffnet war, betrat ich die lange kiesbedeckte, von Platanen gesäumte Allee. Einige niedrige Laternen verbreiteten in regelmäßigen Abständen ein bernsteinfarbenes Licht. Der Himmel war sternenübersät. Es herrschte eine bedrückende Stille, die lediglich durch das leise Geräusch meiner Schritte auf den kleinen weißen Kieselsteinen unterbrochen wurde.
    Das geschmackvoll angestrahlte Schlösschen zeichnete sich am Ende des Weges ab. Eine Mischung aus Mühlstein, rosafarbenem Stein und normannischem Fachwerk, erhob es sich mit seinen zwei Stockwerken über einen prachtvollen Garten. Das rote Schieferdach zierten zahlreiche Kamine, die Mansarden waren düster. Ein einziges Fenster auf diesem Stock war beleuchtet, ebenso die Eingangstür. Neben der steinernen Freitreppe parkten zwei schwarze Luxuslimousinen. Aber nach wie vor war kein Mensch zu sehen. Die Stille auf diesem Hof lastete so schwer, dass ich eine Gänsehaut bekam.
    Ich legte die letzten Meter zurück, immer mehr beherrscht von dieser makabren Atmosphäre. Ich hatte das Gefühl, der Hampelmann in einem düsteren Theaterstück zu sein, von allen Seiten beäugt von einem unsichtbaren Publikum.
    Ich kam an dem großen Gebäude an und ging langsam die grauen Stufen hinauf. Dann läutete ich an der Tür.
    In diesem Augenblick fragte ich mich, ob ich nicht im Begriff war, eine absurde Unvorsichtigkeit zu begehen. War ich bereit, diesem Mann die Stirn zu bieten? Was würde ich bei

Weitere Kostenlose Bücher