Das Kopernikus-Syndrom
wahr. Ich musste meinem Verstand vertrauen. Meinen Gefühlen.
Ich stellte mir Doktor Guillaumes Gesicht vor, zeichnete in meinem Kopf seine Gesichtszüge. Ich wusste ganz eindeutig, dass er gelebt hatte. Dass er Teil der Wirklichkeit war. Meine Eltern hatten ihn gesehen. Er hatte gesprochen. Er war. Aber warum behauptete diese junge Frau, er existiere nicht? Dass es im SEAM-Turm keine Arztpraxis gegeben habe? Es gab in der 44. Etage keine Praxis … In der 44. Etage waren die Technikräume, Monsieur.
Etwas war nicht normal. Etwas ergab keinen Sinn.
Und ich bin es nicht. Ich bin nicht schizophren.
Erneut bekam ich Angstzustände.
Aber was tust du dann hier in den Katakomben, mein armer Alter?
Ich hob den Kopf. Ich hatte mein Feuerzeug ausgemacht, und es war jetzt stockdunkel, aber ich riss die Augen auf. Ich wollte von hier verschwinden. Weg von diesem surrealistischen Ort. Aber ich konnte nicht. Ich riskierte meine Haut.
Gab es diese beiden verdammten Kerle wirklich? Ja, natürlich. Oder doch nicht. Vielleicht nicht.
Für Augenblicke wich die Angst der Wut. Der Wut auf mich selbst. Auf meine Unfähigkeit, richtig zu überlegen. War es denn so schwierig, die Tatsachen zu beobachten? Das Reale zu deuten? Hatte ich denn nach all den Jahren nichts dazugelernt?
Ich nahm an, dass es Abend war. Draußen wurde es allmählich dunkel.
In diesem Augenblick packte es mich erneut. Zuerst das vertraute brennende Gefühl der Migräne, wie eine Zange, die mir die linke Seite des Gehirns zusammendrückt. Dann dreht sich die Welt wie ein Karussell. Dann kommen die Stimmen.
Ein Gemurmel, weit entfernt, aber real. Sehr real für mich. Ich kannte diese seltsamen Zauberformeln. Sie stiegen manchmal aus einigen Gullys hoch. Aus Gittern über dem Metroschacht. Ich hatte gelernt, sie zu erkennen, in all den Jahren, in denen ich durch Paris schlenderte. Es war das Gemurmel der Stadt, unbestimmt, geheim, düster, das meine Seele erstarren ließ. Vielstimmige unverständliche Flüsterlaute, wie der Chor einer Armee von Toten.
Ich hielt mir die Ohren zu. Mein ganzer Körper erstarrte, als wolle er diese verworrenen Stimmen abweisen. Aber ich wusste, dass es nichts nützen würde. Nichts konnte das Murmeln der Schatten zum Schweigen bringen.
17.
Ich weiß nicht, wie lange ich derart in meine Angst vergraben blieb und wann ich einzudösen begann.
Als ich aufschreckte, waren die Stimmen verschwunden. Ich erhob mich ungeschickt und mit tauben Beinen. Ich zündete mein Feuerzeug an, zögerte einen Moment. Ich hatte also nicht geträumt. Ich war hier unter der Stadt wie eine ganz gewöhnliche Kanalratte eingesperrt.
Ich beschloss hinauszugehen.
Mit energischen Schritten ging ich in die Gegenrichtung, stieg schnell die Stufen zur Außenwelt hinauf. Ich hatte das Gefühl, aus einem langen Alptraum zu erwachen, mich ihm zu entziehen, indem ich diesem kleinen Licht da oben entgegeneilte, der realen Welt. Real?
Als ich schließlich vor der Eisentür stand, verstaute ich mein Feuerzeug in der Tasche, ballte die Fäuste und stieß einen langen Seufzer aus. Ein bisschen Mut und raus hier.
Langsam öffnete ich die Tür. Sogleich fielen Lichtstrahlen in den Gang. Es war bereits früher Morgen. Paris erstrahlte in Tausenden von Goldsplittern. Die Zinkdächer glitzerten unter den Antennen. Ich warf einen Blick in die Straße. Niemand zu sehen, keine Spur von den beiden Kerlen. Also trat ich hinaus.
Ich wollte nach Hause gehen. Ich hatte nicht die geringste Lust, die Metro zu nehmen und wieder unter der Erde zu sein, mit dem Bus wollte ich auch nicht fahren, weil man mich wegen meiner zerrissenen Kleidung schief ansehen würde.
Also lief ich zur Place Victor Hugo. Der Tag erwachte mit dem Lärm der Müllabfuhr. Die ersten Wagen fuhren in die strahlende Sonne. Ich erreichte die Place de l'Etoile. Der Triumphbogen strahlte unter dem wolkenlosen Himmel. In der Ferne loderte die Flamme auf dem Grab des Unbekannten Soldaten. War ich ein eigenes Selbst? Ein kleiner anonymer Schizophrener, Sklave unserer lächerlichen Zustände, dem Wahnsinn Tausender Napoleons geopfert. Ich zündete mir eine Zigarette an, passierte die großen Prachtstraßen, dann die Avenue Hoche. Weiter unten betrat ich den Park Monceau. Zu dieser frühen Morgenstunde war er noch menschenleer. Die Bäume schienen sich aufzublähen, als wären sie die Lungen der Stadt bei ihrem ersten Atemholen.
Ich ging durch den Park, dann die Straße hinunter zur Rue Miromesnil. Als ich endlich
Weitere Kostenlose Bücher