Das Kopernikus-Syndrom
Kopernikus-Syndrom hat seinen Namen sowohl von der Gewissheit, dass man eine Wahrheit besitzt, die in der Lage ist, die Weltordnung auf den Kopf zu stellen – immer vorausgesetzt, es gibt eine Weltordnung –, als auch von der Weigerung der Zeitgenossen, einen ernst zu nehmen. Man sieht, wie sich alle feinen Zutaten für die Entwicklung einer ausgewachsenen Paranoia zusammenfinden. Glauben Sie mir, so langsam kenne ich das Rezept.
Woran glaubte Kopernikus so beharrlich? Ich habe nachgeforscht. Natürlich. In den Lexika.
Vor ihm betrachteten die Kirche und die Naturwissenschaftler das Universum, wie Ptolemäus es im 2. Jahrhundert entworfen hatte. Dieser Geograph hatte 141 das Almagest verfasst, eine Abhandlung zum ›Geozentrismus‹, die bis in die Renaissance als Evangelium galt. Seiner Meinung nach stand die Erde im Mittelpunkt von allem. Sie war unbeweglich, und die Planeten drehten sich um sie. Außerdem war die Anordnung der Planeten anders, als wir sie heute sehen: der nächstgelegene war der Mond, dann kam Merkur, die Venus, die Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Da man die vielen glänzenden, ziemlich kleinen Himmelsobjekte nicht übersehen konnte, war man sich einig, dass eine weiter entfernte Sphäre existierte, in der allein alle Sterne des Himmels angesiedelt waren, die als unbeweglich galten. So lagen die Dinge. Alle waren beruhigt, und wehe dem, der den geringsten Zweifel äußerte: Zum Glück stimmte diese Sicht völlig mit der Version der Bibel überein.
Leider stellte Kopernikus im 16. Jahrhundert eine völlig andere Theorie auf. Dieser abenteuerlustige Astronom behauptete nämlich allen Ernstes, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, sondern sich genau wie die anderen Planeten um die Sonne drehte. Das war der Ursprung dessen, was man später das ›heliozentrische‹ Weltbild nannte. Als ob das noch nicht ausreichte, behauptete dieser verrückte Kopernikus außerdem, dass die Erde sich auch um sich selbst drehte.
Kopernikus' Theorie wurde von einfachen Feststellungen untermauert, für die es genügte, ein wenig nach oben zu schauen. Die Drehung der Erde um sich selbst bewies zweifellos, dass es eine tägliche Bewegung der Sonne, des Mondes und der Sterne gab; und die Drehung der Erde um die Sonne machte die Jahresbewegung der Sonne verständlich, die Jahreszeiten … Aber man muss annehmen, dass diese Beweise nicht ausreichten, um zu überzeugen. Kopernikus' Zeitgenossen glaubten kein Wort davon, und die Kirche empörte sich über seine derart blasphemische Theorie.
Bis ins 17. Jahrhundert glaubte nur eine Handvoll Wissenschaftler, darunter der Italiener Galileo Galilei, der dafür streng verurteilt wurde, der Deutsche Johannes Kepler und der Philosoph Giordano Bruno an den Heliozentrismus.
Erst am Ende des 17. Jahrhunderts, als Isaac Newton die Himmelsmechanik erforschte, erkannte man: dieser Dummkopf von Kopernikus hatte recht!
35.
Als ich an einem Tisch in der großen Brasserie mit den roten Wänden saß, den Blick in die Ferne gerichtet, versuchte ich mir die Gesichter all derer vorzustellen, die hier gesessen hatten: Picasso, Apollinaire, Modigliani … Ich mochte das Ambiente dieser großen Pariser Lokale der wilden Jahre schon immer, weil ihr Lärm mich vor den aufdringlichen Gedanken der anderen schützte. Der Tango der Kellner im Café, das Stimmengewirr der Gäste, das Echo, das sich an den hohen Decken brach: Man wird schnell unsichtbar und fühlt sich wie zu Hause. Im Grunde genommen müssten diese Kneipen von der Krankenversicherung finanziert werden. Ihre Ledersofas sind oft heilsamer als die Couch eines Psychiaters, und ein Whisky pur ist immer noch billiger als ein Besuch in der Sprechstunde.
Ich dachte gerade, dass Agnès vielleicht doch nicht kommen würde, als ich sie am anderen Ende des Wepler entdeckte. Sie trug schwarze Jeans und eine rote Jacke, die eng an ihren schlanken Hüften anlag. Ihre braunen Haare waren leicht zerzaust. Ich winkte. Sie kam auf mich zu und nahm mir gegenüber Platz.
»Also, was ist los, Vigo? Weshalb holen Sie mich so spät noch aus dem Bett?«
Ich blickte sie verdutzt an. Ich hatte keine Ahnung, warum meine Wahl auf sie gefallen war, welch unerklärliche Kraft mich trieb, so ganz und gar auf diese einmalige Begegnung zu setzen. Es war nicht meine Art, mich einer Unbekannten dermaßen auszuliefern. Aber kannte ich meine Art überhaupt? Vielleicht ahnte ich einfach, dass sie meine letzte Chance war, meine letzte
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