Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
Vom Netzwerk:
nervös.
    »Es ist keine besondere Leistung zu erraten, dass ich ein bisschen verwirrt bin.«
    »Ich höre mehr als das. Und … Und ich habe soeben etwas von Ihnen begriffen.«
    »Ach ja? Was denn?«
    Ich räusperte mich und klammerte mich an den Tisch vor mir. Der ganze Raum schwankte um mich herum. Ich musste konzentriert bleiben und es ihr sagen.
    Noch nie hatte ich darüber gesprochen. Noch nie war ich bereit gewesen, auf diese geheimen Eindrücke, auf dieses Murmeln der Schatten, das mich wie unerwartete Wellen überrollte, überhaupt zu hören. Noch nie war ich bereit gewesen, es zu deuten, und erst recht nicht, es jemandem gegenüber auszusprechen. Im Grunde genommen hatte ich den Eindruck, Agnès zu vergewaltigen, in ihre Intimität einzudringen und es auch noch zugeben zu müssen, wenn ich ihr sagte, was ich in meinem Kopf hörte. Das machte mich ganz besonders verlegen. Doch die einzige Möglichkeit, sie zu überzeugen, bestand darin, absolut ehrlich zu sein. Meine Krise erreichte ihren Höhepunkt. Mein Herz tat weh, aber ich musste mich überwinden. Und ich musste reden, damit sie es wusste.
    »Als Sie mir sagten, dass Sie einen schwierigen Beruf ausüben, dachte ich zuerst, Sie seien Lehrerin. Aber jetzt weiß ich es. Ich glaube, ich verstehe jetzt besser, wer Sie sind, weil ich in Ihren Ängsten und in Ihren Fragen Echos voller Zeichen höre.«
    »Tatsächlich? Nun, wer bin ich denn?«, fragte sie in ziemlich herausforderndem Ton.
    »Sie … Sie sind bei der Polizei, nicht wahr?«
    Ich sah, wie ihr Gesicht sich verzerrte. Ich schloss die Augen und sprach weiter. Ihre Gedanken rollten wie Wellen auf mich zu. Ich brauchte sie nur in Sätze zu fassen …
    »Sie sind bei der Polizei, und Sie sind drauf und dran, sich zu fragen, ob Sie mir glauben oder mich hinter Schloss und Riegel bringen sollen. Und jetzt gerade fragen Sie sich, ob ich wohl Ihre Polizeimarke in Ihrem Portemonnaie entdeckt oder ob ich mich über Sie erkundigt habe. 541.329. Sie denken an diese Zahl. Und jetzt überlegen Sie, ob ich Ihnen einen Streich spiele, um Sie zu beeindrucken. Sie fangen an sich zu fürchten. Und Sie fragen sich, ob Sie Ihr Portemonnaie dabeihaben oder ob Sie es in Ihrer Wohnung vergessen haben. Und dann … die Angst, die Verwirrung. Zu viel, zu viele Dinge. Ihr Mann …«
    Plötzlich verstummten die Stimmen. Genauso schnell löste sich der Schmerz in meinem Kopf auf.
    Ich öffnete die Augen und sah Agnès an. Ich war durcheinander. Sie war bleich, wie erstarrt. Ich biss mir auf die Unterlippe und bedauerte es. Plötzlich stand sie auf, drehte sich um und lief hinaus. Sie ging sehr schnell und warf keinen Blick zurück.
    Ich riss mich zusammen, zahlte schnell und lief ihr hinterher.
    Das 18. Arrondissement war zu dieser Abendstunde noch hell beleuchtet. Ich ging ein paar Schritte auf dem Trottoir. Dann entdeckte ich sie. Sie saß zu Füßen der Statue von Marschall Moncey, den Kopf in die Hände vergraben.
    Ich überquerte die Straße und holte sie ein. Ich zögerte.
    »Agnès, es tut mir leid, wenn ich Ihnen Angst gemacht habe.«
    Sie hob den Kopf und sah mich mit Entsetzen im Blick an. Es war genau das eingetreten, was ich befürchtet hatte: Sie hielt mich für ein Ungeheuer.
    »Darf ich mich neben Sie setzen?«, fragte ich schüchtern.
    Sie reagierte nicht. Ich deutete es als ja. Aber als ich Platz nahm, sprang sie auf und trat ein Stück zurück. Sie wollte deutlich Abstand zwischen uns schaffen. Das war verständlich.
    »Vigo, ich … Sie müssen Spezialisten aufsuchen. Sie müssen mit jemandem darüber reden. Man muss … ich weiß nicht … aber Sie sollten sich nicht ausgerechnet mir anvertrauen.«
    »Agnès, ich kann nicht. Da sind Männer, die mich verfolgen, und …«
    »Gerade deshalb müssen Sie Hilfe suchen.«
    Ich vergrub die Hände in den Taschen und wurde sehr verlegen. »Sie … Sie glauben mir also?«, fragte ich mit bebender Stimme.
    »Ich weiß es nicht. Es ist so erschreckend.«
    Dagegen konnte ich nichts sagen. Im Übrigen wusste ich sowieso nicht, was ich hätte sagen sollen. Ziemlich niedergeschlagen beschloss ich, mich zu Füßen der Statue zu setzen. Agnès schaute mich an, seufzte und ließ sich in meiner Nähe nieder. Einen langen Augenblick saßen wir mitten auf der Place Clichy, stumm wie die Fische. Das Brummen der nächtlichen Fahrzeuge hüllte unsere Ängste ein. Als mich das Schweigen zu erdrücken schien, holte ich den Briefumschlag aus meiner Tasche und reichte ihn

Weitere Kostenlose Bücher