Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
Vom Netzwerk:
Das war die Welt, die echte, unsere Raum-Zeit-Dimension, in die ich unbedingt zurückkehren musste, um meine Spuren wiederzufinden. Um überhaupt Spuren zu finden. Im Grunde war ich mir gar nicht so sicher, dass ich welche hinterlassen hatte.
    Wie blöd ich doch war! Wie hatte ich in einem solchen Zustand dahindämmern können? Im Inneren empfand ich Scham über mich selbst. Ich schämte mich der Schwäche meines Gemüts, meines Verstands. Und vor allem schämte ich mich, Agnès gekränkt zu haben. Und ich fürchtete, ich könnte sie verloren haben.
    Mit zugeschnürter Kehle betrachtete ich die Autos, die am Haus vorbeifuhren, die Bewohner des Viertels, die spazieren gingen. Ich wusste wirklich nicht, was ich tun, wohin ich gehen sollte. Aber ich musste etwas tun, ich musste losgehen.
    Ich atmete tief ein, dann marschierte ich los. Es war weniger schwierig, als ich befürchtet hatte. Ich ließ mich von der Luft dieses Abends in der Stadt einlullen, lief einfach geradeaus, hielt den Blick gesenkt und ignorierte alle Blicke um mich herum.
    Irgendwann drehte ich mich um und blickte zu Agnès' Wohnung in der obersten Etage hinauf. Ich glaubte, das Fenster ihres Wohnzimmers zu erkennen. Licht brannte. Ich fragte mich, was sie wohl tun mochte. Ob sie bereits die Seite umgeblättert und beschlossen hatte, mich zu vergessen. Ich wandte den Blick ab und ging weiter. Würde sie mir verzeihen können? Sicher hatte sie am Vortag versprochen, mir zu helfen, aber jetzt?
    Und wenn nicht, was war dann? Wenn Agnès mich fallenließ, wäre ich dann fähig, all diese Fragen selbst zu beantworten? Sicher nicht. Aber mich den Behörden zu stellen, wie sie vorgeschlagen hatte, flößte mir noch mehr Angst ein.
    Mein Magen rebellierte. Ich hatte Hunger, ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Ich musste mich zuerst einmal darum kümmern. Um das Essen, um die einfachen Dinge. Eines nach dem anderen. Ich ging auf dem Trottoir bis zur Place Clichy und kehrte, ohne nachzudenken, ins Wepler zurück.
    Die Brasserie war proppenvoll, rauchverhangen und laut. Ich setzte mich in den hinteren Teil an einen kleinen Tisch, fern von den Blicken der anderen.
    Ich zündete mir eine Zigarette an. Der Kellner nahm meine Bestellung auf. Weil ich Hunger hatte und unbedingt etwas essen musste, bestellte ich ein Käse-Schinken-Sandwich, einen Teller Pommes und ein Bier vom Fass. Immerhin saß ich in einer Pariser Brasserie …
    Während ich auf mein Essen wartete und um die Gedanken an Agnès zu verdrängen, beschloss ich, die Notiz noch mal zu lesen, die ich im Hotel bekommen hatte. Ich zog das Kuvert heraus und glättete das Blatt vor mir.
    »Monsieur, Ihr Name ist nicht Vigo Ravel, und Sie sind nicht schizophren. Finden Sie das Protokoll 88.«
    Das Protokoll 88. Ich musste mich wieder darauf konzentrieren. Seit ich diese Botschaft erhalten hatte, war ich keinen Zentimeter vorangekommen. Eher zurückgefallen, mit Riesenschritten.
    Ich versuchte, mich zu konzentrieren, mir die richtigen Fragen zu stellen. Vergebens. Jedes Mal, wenn ich nach einer Antwort griff, nach einer Spur, kam mir Agnès' Gesicht in den Sinn. Ihr wütender Blick, ihre barschen Worte. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass alles anders verlaufen wäre. Sie hatte mir nicht einmal sagen können, ob sie etwas gefunden hatte, ob sie Nachforschungen über meine Eltern hatte anstellen können, wie sie mir versprochen hatte … Würde sie mich anrufen? Hatte sie etwas gefunden? Würde sie meine Entschuldigung annehmen? Wäre sie bereit, sich erneut mit mir zu treffen? Ich musste aufhören, darüber nachzudenken.
    Der Kellner brachte meine Bestellung. Ich dankte ihm und stürzte mich mit Appetit auf das Essen. Ich verschlang das Sandwich und die Pommes und hob nur den Kopf vom Teller, um einen Schluck Bier zu trinken.
    Als der Kellner meine beiden leeren Teller abräumte, bestellte ich ein zweites Bier.
    Ich blieb ein paar Stunden sitzen, rauchte eine Zigarette nach der anderen, trank ein Bier nach dem anderen und konnte an nichts anderes denken als an diese Frau, mit der ich liebend gern diesen seltsamen Abend verbracht hätte. Wieder einen Abend. Ich stellte mir ihre grünen Augen vor, ihr verhaltenes Lächeln, ihren zarten Körper, ihre schöne bronzefarbene Haut. Und ich sah, wie sich alles langsam entfernte, wie der Bahnsteig einer geliebten Stadt zurückbleibt, wenn man nur eine Hinfahrkarte gelöst hat. Ich hatte das Gefühl, in einem riesigen Schlamassel zu stecken, und das unbändige

Weitere Kostenlose Bücher