Das Krähenweib
Wachstube mit einem markerschütternden Ton, der den schlafenden Wächter darin aufschreckte. Er sah sich mit großen Augen um, die Hand an seinem Säbel, doch als er Annalena mit dem Korb erblickte, atmete er erleichtert aus.
»Was willst du hier, Mädchen?«, fragte er und ließ Annalena nicht die Zeit, sich umzuschauen.
»Ich bringe einen Korb mit Essen von der Frau Kirchmaier«, antwortete sie. »Sie will, dass ich es dem Herrn Böttger bringe.«
Der Wächter schnaufte, erhob sich dann von seinem Platz und kam auf sie zu. »Stell den Korb auf den Tisch, damit ich ihn mir anschauen kann.«
Annalena tat wie geheißen und hatte nun einen kurzen Moment, ihre Umgebung zu betrachten. Johann befand sich offenbar in einer Art Arrestzelle, die an den Wachraum angrenzte. Während der Uniformierte ihren Korb nach Dingen untersuchte, die dem Gefangenen zur Flucht verhelfen könnten, schweifte ihr Blick in die Zelle. Bevor sie Johann entdeckte, spürte sie ihn. Sie fühlte seinen Blick aus dem Halbdunkel heraus. Als könnte er kaum glauben, dass sie hier sei, verharrte er zunächst auf seiner Pritsche, doch dann endlich erhob er sich und trat an das Gitter. Ihre Blicke trafen sich, und Annalena wurde Zeuge, wie seine ausgezehrten Züge von einem Hoffnungsschimmer erhellt wurden. Er bedeutete ihr, nichts zu sagen und warf ihr dann einen Handkuss zu.
Inzwischen war der Wächter mit seiner Untersuchung fertig und sagte: »Ist gut, kannst ihn hierlassen.«
»Und wer sagt mir, dass Ihr ihm den Korb gebt? Ich will ihn in seine Zelle bringen.«
Der Wächter verzog beleidigt das Gesicht. »Was soll das, Mädchen? Glaubst du etwa, dass ich mich über das Essen hermache?«
Annalena ließ ihren Blick auf seine Körpermitte schweifen. Der Bauch, der sich unter seiner Uniformjacke wölbte, sprach Bände. Als der Wächter erkannte, was sie damit sagen wollte, schnaufte er und zog pikiert seine Uniform zurecht. »Also gut, bring ihn rein. Aber wäre der Herr Amtmann da, hätte ich es dir nicht gestattet.« Damit nahm er sein Schlüsselbund und schlurfte zur Zelle.
Als er die Tür so weit geöffnet hatte, dass der Korb hindurchpasste, stemmte er den Fuß dagegen. Wahrscheinlich, um so einen Ausbruch zu verhindern.
Annalena sah zu Johann. Sie wartete auf ein Zeichen, dass sie ihm helfen sollte, hier rauszukommen. Den Wächter niederzuschlagen würde nicht leicht sein, aber vielleicht gab es eine andere Möglichkeit, ihn außer Gefecht zu setzen.
Doch Johann entfernte sich vom Gitter. Wollte er hierbleiben? Oder wusste er, dass ein Ausbruchsversuch töricht war?
Annalena stellte den Korb ab und schob ihn mit dem Fuß durch den Türspalt. Der Wächter schloss daraufhin wieder ab.
»Bitte, ich möchte einen kurzen Moment mit ihm sprechen«, rief Annalena schnell, bevor der Wächter sie wegschicken konnte. »Die Frau Kirchmaier hat gesagt, dass ich etwas ausrichten soll, etwas Privates.«
Der Wächter verzog unwillig das Gesicht. Doch der Name Kirchmaier ließ auch ihn einwilligen. Schnaufend zog er sich zurück und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, doch anstatt sein Nickerchen fortzusetzen, beobachtete er sie argwöhnisch.
Annalena trat so nah wie möglich an das Gitter. Johann kam zu ihr, so dicht, dass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte.
»Nun, was willst du mir ausrichten?«, fragte er vorsichtig und warf einen Blick über ihre Schulter auf den Wächter. Es schien, als würde er abschätzen, wie leise er sprechen musste, damit er sie nicht hörte.
»Die Frau Kirchmaier macht sich Sorgen um Euch und will wissen, ob es Euch gutgeht.« Annalena hoffte, dass Johann verstand, dass sie eigentlich etwas anderes sagen wollte.
»Mir geht es gut«, antwortete Johann, jetzt leiser, und trat noch ein Stück näher ans Gitter heran.
In seinem Haar hing noch immer der Geruch des Bettleinens und der Speisen, von deren Ausdünstungen die Schenke erfüllt war. Ein kleiner Hauch des Laborgeruches, der seine Kleider nie verließ, war ebenfalls an ihm wahrzunehmen. Sie sehnte sich so sehr danach, ihn zu berühren, doch Johann, der ihre Absicht erkannte, zog warnend die Augenbrauen hoch.
»Annalena, du musst mir einen Gefallen tun«, flüsterte er dann so leise, dass selbst sie Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen. Sie hielt die Luft an und lauschte. »Bring mir die Goldmünzen, die ich neben dem Kamin versteckt habe.«
»Willst du etwa …«
Johann legte ihr den Finger auf die Lippen, bevor sie den Satz zu Ende sprechen
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