Das Krähenweib
Quartier schlich, war sich Annalena bewusst, dass sie gerade ihre Stellung aufs Spiel setzte. Wenn man ihr Fehlen und das des Pferdes bemerkte, würde man sie sicher rauswerfen oder zumindest wieder der Küche zuordnen – kurfürstliche Dankbarkeit hin oder her –, doch sie konnte nicht anders. Nach dem, was sie vor der Tür des Kabinetts belauscht hatte, musste sie Gewissheit haben.
Sie huschte auf nackten Füßen, mit ihren Schuhen in der Hand, durch die Galerie und schließlich die Treppe hinunter, die zum Dienstbotenausgang führte. Überall war es still, nur der Wind raunte durch die Hallen und der Schnee schlug mit einem leises Knistern gegen die Fensterscheiben.
Es überraschte sie daher nicht, als sie über einen weißen Schneeteppich zu den Ställen schlich. Leise knirschte es unter ihren Füßen. Mitternacht war bereits vorüber, in keinem der Fenster brannte noch Licht. Auch im Stall war alles ruhig. Die Burschen schliefen in einem kleinen Gebäude nebenan, hoffentlich fest genug, um nicht zu bemerken, dass sie eines der Tiere entwendete.
Annalena öffnete die kleine Tür, die in das große Stalltor eingelassen war, und schlüpfte hinein. Die warme Luft, die mit dem Geruch von Mist und Pferdefell erfüllt war, nahm ihr für einen Moment den Atem, doch rasch gewöhnte sie sich daran und suchte sich einen Weg durch die Dunkelheit. Eine Lampe zu entzünden wagte sie nicht, sie ließ sich von ihrem Gehör leiten und nutzte das wenige Licht, das durch die Fenster fiel.
Als sie sich vorsichtig einem Pferd, dessen Fellfarbe sie in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, näherte, schnaubte es leise. Annalena hoffte, dass es noch sein Geschirr trug, denn das würde sie ihm in der Dunkelheit unmöglich anlegen können.
Sie tastete sich mit den Händen auf dem Fell voran in Richtung Kopf, vorsichtig, damit das Tier nicht zusammenschreckte und sie mit seinem massigen Körper von den Füßen riss. Am Kopf angekommen spürte sie einen Riemen, der ihr die Gewissheit gab, dass das Pferd gezäumt war. Nachdem sie die Leine ertastet hatte, machte sie es los und führte es dann zum Tor. Das Klappern der Hufe auf der steinharten Tenne alarmierte sie. Sicher würde irgendwer das Geräusch hören, wenn sie vom Hof ritt. Sie entschied sich also, ihren Unterrock zu zerreißen und die Flicken um die Beine des Tieres zu wickeln, um den Lärm ein wenig zu dämpfen. Immer wieder wanderte ihr Blick nach draußen, doch von den Wächtern war keiner zu sehen. Wahrscheinlich verbrachten sie die Nacht lieber in der Wachstube, als sich draußen Zehen und Hände abzufrieren.
Als sie fertig war, führte Annalena das Pferd aus dem Stall heraus. Der Mond hatte es inzwischen geschafft, sein Licht durch die wild dahinziehenden Wolken zu schicken. Da es von der Schneedecke zurückgeworfen wurde, war die Nacht hell genug, dass Annalena erkennen konnte, dass sie einen Apfelschimmel gewählt hatte, wie ihn früher auch ihr Vater besaß. Wenn sich die Wolken nicht wieder vor den Mond schoben, würde sie keine Probleme haben, den Weg zu Kunckels Gut zu finden.
Die einzige Hürde, die sie jetzt noch überwinden musste, war das Tor. Doch in dieser Nacht schien ihr das Glück hold zu sein. Während sie sich in den Schatten drückte, vernahm sie den Lärm einer schnell herankommenden Kutsche. Geschirre klirrten, Pferde schnaubten und der Lärm der Räder übertönte sämtliche Geräusche in ihrer Nähe.
Annalena wusste nichts von einem nächtlichen Besucher. Als sie um eine Ecke des Stalls spähte, sah sie, dass es nicht nur eine Kutsche war, die auf den Schlosshof fuhr, sie wurde zudem von einigen Reitern eskortiert. Wenn sie jetzt nicht verschwand, bekäme sie heute sicher keine Gelegenheit mehr. Rasch schwang sie sich auf den Pferderücken und trieb den Apfelschimmel an.
Tatsächlich gelang es ihr, das Tor zu passieren, bevor jemand auf sie aufmerksam wurde. Glücklicherweise ließ die Angst ihre Glieder erst zittern, als sie das Schloss schon ein Stück hinter sich gebracht hatte.
Drei Stunden später erreichte sie das Gut. Trotz der späten Stunde fand sie das Haus hell erleuchtet vor. Da das Tor offenstand, sprengte sie sogleich auf den Hof. Dort erblickte sie eine Kutsche, und obwohl sie sich sagte, dass Hoffnung töricht wäre, flammte in ihr ein kleiner Funke auf. Vielleicht war Johann ja hier? Die Diener, die gerade dabei waren, das Gepäck vom Wagen zu laden, erschraken, als Annalena ihr Pferd vor ihnen zügelte.
»Der Herr
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