Das Krähenweib
sie dergleichen angewendet. Abgesehen von der Tatsache, dass sie sich damit vielleicht als Henkerstochter verraten hätte, hatte wohl auch ihr Gewissen sie davon abgehalten, dieses Wissen weiterzugeben. Sie verurteilte die Entscheidung dieser Frauen nicht, aber selbst an dem Tod eines Kindes mitzuwirken, war etwas ganz anderes.
»Wie steht es eigentlich mit einer Belohnung?«, fragte Johann schließlich und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie merkte, dass sie nur noch ein paar Meter vom Kontor entfernt waren. »Belohnung? Wofür denn?« Annalena wusste, dass er scherzte. Sie sah ihm in die Augen und erkannte darin das Verlangen, ihre trüben Gedanken zu vertreiben. Das entlockte ihr ein sanftes Lächeln.
»Immerhin habe ich dich sicher hin- und jetzt auch wieder zurückgebracht. Ein kleiner Lohn muss da doch für mich drin sein.« Sein Grinsen wirkte geradezu entwaffnend.
»Und an welche Belohnung hattest du gedacht?«
Johann lächelte, dann zog er sie langsam in seine Arme und küsste sie.
Annalena war zunächst so überrascht, dass sie Johann einfach gewähren ließ. Doch als sie spürte, wie vorsichtig und zärtlich er war, wie locker er sie hielt, damit sie sich losmachen konnte, wenn sie es denn wollte, rann ein wohliger Schauer durch ihren Körper. Und so schlang sie schließlich ihre Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss. Erst nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander.
Annalena fühlte sich, als würde sie aus einem warmen Zimmer in die Kälte kommen. Ihr Herz raste. Noch nie hatte sie den Kuss eines Mannes so genossen wie diesen. Doch konnte sie es sich gestatten, auf mehr als einen flüchtigen Kuss zu hoffen? Wollte Johann überhaupt mehr? Und wenn seine Absichten lauter waren, sie war in den Augen der Gesellschaft doch keine ehrbare Frau. Das würde er spätestens erkennen, wenn er ihren Rücken sah.
Obwohl sie eigentlich nicht aus seiner Nähe fortwollte, trat sie einen Schritt zurück. »Ich muss gehen.«
Johann nickte bedauernd. »Dann eine gute Nacht, Annalena!«
»Dir auch, Johann.« Damit wandte sie sich um und verschwand in der Pforte zum Hinterhof.
10. Kapitel
A us den geheimen Aufzeichnungen des Johann Friedrich Böttger:
Heute ist die Nacht der Nächte. Die vergangenen Stunden, die ich eigentlich mit Schlaf hätte füllen sollen, habe ich mich rastlos auf meiner Schlafstatt gewälzt und konnte dabei an nichts anderes denken als den bevorstehenden Versuch.
Siebert nimmt alles gelassen, und manchmal frage ich mich, ob er überhaupt an das große Ziel glaubt. Wenn ja, müsste er dann nicht ein wenig mehr Aufregung zeigen?
Es kann allerdings sein, dass er noch immer wie betäubt ist von dem, was sich in der vergangenen Woche ereignet hat. Dank der großzügigen Zuwendung unseres Gönners haben wir das Laboratorium prachtvoll einrichten können. Tiegel, Kolben, Gläser, alles ist blank und schön anzusehen. Es ist genug Rohstoff da, um wochenlang Versuche durchzuführen, und gerade gestern haben wir einen neuen Ofen bekommen, der den notdürftig geflickten Schmelzofen ersetzt hat.
Kann sein, dass Siebert dadurch einen Schock erlitten hat, den er allerdings bis heute Abend überwunden haben muss. Wir haben keine Zeit mehr fürs Nachsinnen, jetzt geht es um alles. Sollte es uns gelingen, das große Ziel zu erreichen, kann er meinetwegen mit verklärtem Blick in der Ecke sitzen, aber nicht jetzt!
Vor den Erfolg hat Gott allerdings den Schweiß gesetzt, und diesen habe ich in der vergangenen Woche hinreichend gelassen. Ich bin mit Lascarius die alten Bücher durchgegangen, manchmal bis fast in den Morgen hinein bin ich bei ihm geblieben und habe studiert. Alles nur für diesen Tag, und ich bin mir sicher, dass er sich lohnen wird.
Schrader, in dessen Forderung ich eingewilligt habe, ist mir in der vergangenen Woche wirklich ein treuer Freund gewesen. Trotz allen Misstrauens, das ich ihm zunächst entgegengebracht hatte, ist er ein besserer Vertrauter, als ich dachte. Er schweigt nicht nur, er beschafft mir bei seinen Wegen durch die Stadt auch Dinge, die ich brauche und nicht aus den Apothekenschränken nehmen kann. Natürlich kann ich ihn nicht zu den Experimenten mitnehmen. Die anderen würden ihn gewiss mit Argwohn betrachten, und obwohl ich meine Hand für ihn ins Feuer legen würde, wären meine Mitstreiter sicher nicht so einfach zu besänftigen. Doch ich versprach ihm, das Experiment noch einmal in unserem Labor nachzustellen, sollte mir ein Erfolg beschieden
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