Das Kreuz der Kinder
nach Linosa zurückgesegelt. Am hellichten Tag mußte
Melusine es erleben, daß der Mann, von dem sie eine
nächtliche Entführung mit Bangen erhofft und befürchtet
hatte, im Hafen anlegte, an ihrem Zelt vorüberschritt, ohne
ihr einen Blick zu schenken. Kazar Al-Mansur machte
dem Komtur seine Aufwartung, überreichte ihm als
Geschenk zwei kunstvoll geschmiedete Damaszenerklingen und einen fein ziselierten Brustpanzer und fragte
höflich um die Erlaubnis nach, die auf dem Kai abgestellte
Ware mitnehmen zu dürfen. Dem Komtur war diese
Lösung nur allzu recht, er bedankte sich für das wertvolle
Geschenk und ließ ihm freie Hand. Melusine sah – unfähig
zu irgendeiner Art von Gegenwehr –, wie ihr Zelt wieder
abgebaut und verladen wurde. Wen hätte sie auch um
Hilfe rufen sollen? Die hochmütigen Templer, die auf den
Wehrgängen der Hafenbefestigung Wache standen, hatten
ein Herz aus Stein. Die einheimische Bevölkerung bestand
durchweg aus Sarazenen vom gleichen Stamm wie die von
Mahdia. Warum sollten sie für eine Christin, eine allein
zeltende junge Frau die Hand erheben? Ohne ein Wort des
Protestes ließ sie alles geschehen und sich an Bord des
Seglers führen, wo der Räuber ihrer Freiheit sich nicht
einmal zu ihrem Empfang eingefunden hatte. Hingegen
wurde ihr bedeutet, daß die Mitnahme ihres Dieners nicht
vorgesehen sei. Melusine fügte sich auch darin. Sie
wendete sich ab, als sie sah, daß der Mohr weinte. Der
Emir sprang federnden Schrittes an Bord, und der Segler
legte ab. Timdal blieb allein zurück in seinem
ohnmächtigen Schmerz auf der einsamsten aller Inseln im
Mittelmeer.
Hätte Melusine geahnt, wie nah ihr blonder Ritter war,
oder daß gar ihr Freund Pol noch lebte, hätte sie sich
vielleicht anders verhalten. Aber Palermo lag Welten
entfernt, zum Horn von Iffriqia hingegen war es nur ein
Raubkatzensprung.
Im Hospital der Hauptstadt von Sizilien wurde Pol auf
eigenes Verlangen vorzeitig entlassen. Er trug den Kopf
noch bandagiert, was die besorgten Ärzte veranlaßte, ihm
einen Turban zu binden. Und da der tapfere junge Ritter
durch die Piraten alles verloren hatte, statteten sie ihn auch
mit einer kostbaren sarazenischen Rüstung aus, samt
Shimtar und Rundschild. Zwei von ihnen, mit denen er
sich besonders angefreundet hatte, der ägyptische Doktor
Soufian el-Iskanderi und der Syrer Doktor Taufiq
Almandini begleiteten ihn bis zum Hafen, wo sie schon
eine Passage auf einem Templerschiff besorgt hatten. Die
galt zwar nur bis zur Festung Linosa, aber von da aus
würde er mit Hilfe des kriegerischen Ordens schon
weiterkommen ins Heilige Land. Pol verschwieg den
guten Doctores, daß sein Trachten einzig darauf
ausgerichtet war, die nahe Berberküste zu erreichen und
nach seiner Melou zu forschen. Für dieses Unternehmen
schien ihm auch die fürsorgliche Ausstaffierung als
Sarazene bestens geeignet, während er in der terra sancta damit sicher unliebsam aufgefallen wäre.
Elgaine d’Hautpoul, das umtriebige Hoffräulein der
Königin, und Rik van de Bovenkamp treffen völlig
zerstritten in Palermo ein. Sie beobachten interessiert die
Abreise des ›Sarazenen‹ auf dem Segler unter dem Tatzenkreuz. Beide kennen sie Pol nicht, sind ihm nie begegnet.
Kazar Al-Mansur, der Emir, hatte sich schon zu Beginn
des Berichts von Timdal zurückgezogen, doch
gleichermaßen wie er nicht wünschte, von den
Anwesenden als kaltherziger Räuber angestarrt zu werden
– eine Rolle, in der er sich auch im Nachhinein
keineswegs sah –, wurde von allen mit Sicherheit
angenommen, daß er oben am Ohr des Dionysos in der
Decke lauschte, ging es doch für ihn um jedes Körnchen
an Zuneigung, die Melusine ihm damals möglicherweise
entgegengebracht, um jede Fadenbreite einer Annäherung,
die sie aus freien Stücken vollzogen hatte, und schließlich
um jenes Fünkchen, aus dem sich der Liebesbrand
herleiten ließ, in den er sie dann im Rausch seiner
Leidenschaft mit sich riß, so daß keiner von beiden mehr
wußte und wissen wollte, was vorher war!
Das Stöhnen aus der Ecke unter dem Loch entrang sich
dem geknebelten Saifallah, weswegen die Sjidda Blanche,
die den ›Vicarius Mariae‹ Luc de Comminges sofort
wiedererkannt hatte und unvermindert haßte, von Marius
ein Tuch über den Käfig werfen ließ, damit ihr der
Anblick erspart blieb.
»Mir scheint, daß ich die einzige von allen bin, die das
ersehnte Ziel, das heilige Hierosolyma, je erreicht hat«,
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