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Das Kreuz der Kinder

Das Kreuz der Kinder

Titel: Das Kreuz der Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Berling
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Hirten
heraus. Wer nichts zu essen findet, krepiert am
Wegesrand. Wasser und Gras, Wurzeln und Blätter allein
können die Qualen nur verlängern der Tod hält reichlich
Ernte. Je länger sich der Zug wie eine zehntausendfüßige
Riesenechse durch das Land schiebt, desto verheerender
sind die Verwüstungen, desto gräßlicher das Leiden und
zahlreicher die Opfer am Wegesrand, die das Monster
hinter sich läßt.
    Vorne an der Spitze, beim Haupt der Schlange, ist von
der Not des verzweifelt um sich schlagenden Schwanzes
nichts zu spüren. Zwar tauchen gelegentlich, abgerissen,
hohlwangig und erschöpft etliche ›canes domini‹, die
›Schäferhunde‹ der Nachhut, bei dem buntgeschmückten
Wägelchen auf, das mit Stephan vorwegrollt, aber Luc
weiß ihnen die knurrenden Mägen zu stopfen, so daß sie
den ›Minderen Propheten‹ nicht weiter behelligen.
    Für Stephan und sein engstes Gefolge, ›die kleinen
Apostel‹, gibt es anfangs alles in Hülle und Fülle, die
Leute sind neugierig auf ihn, jubeln ihm zu, zumal viele
ihrer Kinder von Haus und Hof fortlaufen und sich
Stephan anschließen. Doch da böse Nachrichten schneller
reisen als angenehme, überholen die Gerüchte von den
Greueln schnell das Wägelchen, und zunehmend stößt nun
auch der ›kleine Prophet‹ auf Mißtrauen statt
Bereitwilligkeit, treffen seine Visionen vom himmlischen
Jerusalem auf waffenstarrende Ablehnung und
verschlossene Türen. Blanche, die sich von Anfang an
ihren Platz zu seinen Füßen gesucht hat – sieht sie sich
doch als seine Magdalena – erträgt ihren nagenden Hunger
still leidend, solange nur Stephan genug zu essen hat. Ihr
Freund Étienne kann für einige Zeit aufgrund seiner
ausgeprägten Fähigkeiten das Notwendigste besorgen,
wovon auch Luc sich gierig seinen Teil grapscht, doch je
weiter sie in den Süden vordringen, um so karger wird das
Land – von den Olivenhainen und Kastanienwäldern mal
abgesehen, doch deren Früchte sind noch ungenießbar.
Und die glühende Hitze nimmt zu. Melusine erbietet sich,
den munteren Knaben auf dem nächsten Unternehmen zur
›Beschaffung von Eßbarem‹ zu begleiten. Sie leiht sich
eines der letzten Pferde aus, die den treu ausharrenden,
berittenen ›kleinen Aposteln‹ noch verblieben sind – sie
sitzen längst zu zweit auf einem Tier, die anderen haben
sie geschlachtet.
    Melusine trabt, mit Étienne hinter sich im Sattel, vom
Kopf des Zuges weg gen Süden, davon ausgehend, daß
dort unter der Bevölkerung noch friedliche
Ahnungslosigkeit herrscht. Sie befinden sich mittlerweile
im Ardèche. Melusine verläßt die Hauptstraße und wendet
sich landeinwärts. Ein zypressenbestandener Zufahrtsweg
schlängelt sich die Hügel hinauf, von menschlichen Wesen
ist weit und breit nichts zu sehen, aber unweit des
gepflasterten Pfades entdeckt Étienne mit Habichtsaugen
das Gatter, einen Hühnerhof, angefüllt mit eifrig
pickenden und scharrenden, fetten weißen Hennen. Die
beiden Räuber gleiten vom Pferd und überwinden die hohe
Umzäunung. Mit sicherem Griff schnappt Étienne sich ein
Huhn nach dem anderen, da hilft kein Gackern und kein
Flattern, blitzschnell dreht er ihnen den Hals um und wirft
die Beute Melusine zu, die sie – Mädchen vom Lande
geschickt, eine Kordel um die von sich gestreckten Beine
gewunden, zusammenbündelt. Die eifrigen Diebe sind ins
Schwitzen geraten, sie schlürfen gerade einige nestfrische
Eier, um sich zu stärken, als ihr Pferd wiehert: Um das
Gatter herum sind mit Knüppeln bewaffnete Knechte
aufgezogen, sie sind gefangen! Ein beleibter Gutsherr hat
sich bereits ihres Gauls bemächtigt.
    »Warum sollt’ es euch anders ergehen, als meinem
Federvieh«, spricht er genüßlich. Die Knechte lachen. »Da
sie keine Eier legen, gibt’s auch keinen Grund, ihr armes
Leben zu verlängern –.«
    Die letzten Worte hat der dicke Bauer bereits an seine
Knechte gerichtet, »also macht ihnen lange Hälse – und
nicht zu schnell!«
    Die Knechte lassen sich Zeit, sie suchen noch nach
einem geeigneten dünnen Strick und nach dem passenden
Balken, als auf dem Zypressenweg sich eine Kutsche
nähert. Étienne steht noch immer wie angewurzelt mit
einem wild mit den Flügeln schlagenden Hahn inmitten
des Hofes, während Melusine, die nicht bereit ist, ihr
Leben billig zu verkaufen, heimlich ihren Dolch gezogen
hat. Ein kühner Sprung über die Umzäunung, die Klinge
dem Dicken an die Gurgel gesetzt, scheint ihr

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