Das Kreuz der Kinder
die einzige
Chance. Da hält die Kutsche – und ihr entsteigt Marie de
Rochefort! Sie überblickt die Situation sofort.
»Was kosten Eure Hühner im Dutzend?!« fährt sie den
Dicken an, den ihr bis an die Zähne bewaffnetes Gefolge
sofort umstellt hat, während Timdal, der Mohr ihn vom
Dach der Kutsche herunter Grimassen schneidend
anfletscht.
Der Dicke wittert das Geschäft. »Alle?«
Marie nickt und läßt sich ihren Geldbeutel reichen. »Ein
jedes! Lebend oder tot, samt den Eiern in die Körbe!«
befiehlt sie. »Tragt alles vor zur Straße, dazu sechs Leiber
von Eurem berühmten Brot, zwei Kranz Zwiebeln und ein
Faß Wein.«
Jetzt schwitzt der Bauer vor Erregung, während
Melusine ihren Dolch sichtbar wieder wegsteckt und
Étienne endlich dem zeternden Hahn den Garaus macht.
»Unser Käse kann sich rühmen –.«, der Dicke ist
entschlossen die gute Gelegenheit voll zu nutzen, »auch
unser Speck –.«
»Ich will nicht schuld sein«, sagt Marie und wirft ihm
die abgezählten Goldstücke zu, »wenn Eure Familie des
Winters am Hungertuch nagen muß!«
Die arg enttäuschende Höhe des Preises läßt alle
weiteren Anpreisungen abrupt verstummen, hätte er den
frechen Dieben die paar Hühner umsonst gelassen, wäre er
billiger weggekommen, aber nun bleibt dem Dicken keine
Wahl mehr. Die Bewaffneten der hohen Dame haben das
Pferd, auf dem er sitzt, am Zügel genommen und führen es
mit sich. Vor Angst schwitzend befiehlt er seinen
Knechten, das Bestellte zur Straße zu bringen.
Für den ›Minderen Propheten‹ samt seinen ›kleinen
Aposteln‹ und allen, die so weit zur Spitze des Zuges
aufgeschlossen waren, daß sie den Segen mitbekommen,
ist es ein Schlemmerfest. Stephan willigt ein – der
Vorschlag kommt von Étienne –, mit den überlebenden
Hühnern sein Wägelchen zu teilen. Luc de Comminges hat
sofort Unterschlupf in dem nachfolgenden Haufen
gesucht, als er der Schwester des Inquisitors ansichtig
wird – so kommt er auch nicht in den Genuß der
Köstlichkeiten. Dem ›Vicarius Mariae‹ schwant, daß die
Hofdame nicht als rettender Engel erschienen ist, sondern
im Gegenteil alles daran setzen wird, das Werk ihres
Bruders zunichte zu machen, und dem fühlt sich Luc allein
schon als ›Domenikaner‹ verpflichtet, auch wenn
Monsignore Gilbert ihn bei der Wahl des ›Legatus et
Praefectus Germaniae‹ schmählich übergangen hat.
Sein Argwohn bewahrheitet sich: Marie de Rochefort
lädt Melusine ein, die Reise bei ihr in der Kutsche fortzusetzen, doch die willigt erst ein, als das Angebot auch
auf Étienne und Blanche ausgeweitet wird. Für Blanche ist
im Wägelchen des Propheten wegen des Federviehs jetzt
eh kein Platz mehr, worauf Étienne auch hingezielt hatte,
als er den lebenden Proviant dort einquartierte. Die
einseitige Hinwendung seiner zuvor so promiskuitiven
Gefährtin an Stephan ist ihm ein Dorn im Auge. Marie
gibt sich vorerst mit allem einverstanden und bereit, den
Zug bis nach Marseille zu begleiten. Die Frist, den
Wahnsinn noch zu verhindern, das ist ihr klar, lief mit dem
Erreichen des Hafens ab. Melusine frank und frei die
weitere Teilnahme auszureden, erscheint ihr sinnlos. Sie
versucht es dennoch behutsam mit dem Hinweis, daß Rik
längst nach Deutschland zurückgekehrt sei, doch genau
das hält das Fräulein de Cailhac für eine ausgemachte
Lüge der Hofdame und für ein sicheres Zeichen, daß ihr
blonder Ritter sie in Marseille erwartet. Aus Höflichkeit
weniger aus Dank für die Errettung vor dem dünnen
Würgestrick des dicken Bauern – läßt Melusine es dabei
bewenden. Sich gegenseitig voller Mißtrauen mit falscher
Freundlichkeit anschweigend, rollen sie in die Provence
ein.
Wie Verschwörer trafen sie sich bereits früh am Morgen
im ›Saal der Bücher‹, denn sie wußten um den Unmut des
Emirs, wenn sie sich jetzt wieder ›den Deutschen‹
zuwandten. Dieser geplante Schwenk von Rhone zum
Rhein war aber auch das einzige, das Irm, Rik, Daniel und
Timdal zur Zeit einte. Auch die dazwischenliegende Nacht
hatte die Spannungen zwischen ihnen keineswegs
abgebaut, so daß der Mohr noch vor Beginn der ›Arbeit‹
eigentlich nur scherzend vorschlug:
»Wenn ihr euch weiter so zu zerfleischen gedenkt, wie
in den vergangenen Tagen, sollten wir gleich ein
reinigendes Gewitter herabbeschwören: ›Das
Wahrheitsspiel‹!«
Statt übellaunigen Desinteresses oder gar eisiger
Ablehnung, die zu erwarten waren, machte sich
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