Das Kreuz der Kinder
Vicarius die
ganze Kutsche samt ihren Insassen ein Dorn im Auge, die
lästige Anwesenheit dieser Schwester seines Vorgesetzten
insbesondere, zumal er der vertrauensseligen Blanche
entlockt hat, daß die Hofdame nach wie vor ihren
Widerstand gegen die Verwirklichung von dessen Plänen
keineswegs aufgegeben hat.
Melusine ist inzwischen dazu übergegangen – des
ständigen Insistierens der Hofdame leid – eine gewisse
Bereitwilligkeit, sogar Verständnis für das Anliegen der
Marie de Rochefort zu zeigen, den unsinnigen Kreuzzug
in Marseille zu einem Ende kommen zu lassen. Der listige
Étienne springt Melusine bei, indem auch er der Hofdame
Hoffnung macht. Doch dafür müsse sich die Dame erst
einmal bis in die Hafenstadt bemühen – oder ob sie sich
denn vorstelle, den Marsch der wild Entschlossenen, sich
verzweifelt Dahinschleppenden, von fiebrigen Visionen
Getriebenen jetzt mitten auf staubiger Landstraße etwa mit
ausgebreiteten Armen zum Halten zu bringen, gar zur
Umkehr zu bewegen? Marie ist entsetzt, als sie von
Blanche hört, daß Stephan allen Ernstes weiterhin
verspricht, daß sich das Meer bei ihrer Ankunft teilen
werde und daß Luc diese Verheißung durch seine Apostel
stündlich verbreiten lasse, um allen Mut und Kraft zu
geben, bis zum Ziel durchzuhalten.
Marie de Rochefort beginnt, in Étienne einen
brauchbaren Verbündeten zu sehen und in Melusine die
gesuchte, aufrichtige Freundin. Sie ahnt nicht, daß es dem
Fräulein de Cailhac einzig darum geht, in der
komfortablen Kutsche Marseille zu erreichen, wo sie
hofft, ja gewiß ist, ihren deutschen Ritter wiederzufinden.
Mitten in dem mit aller Verlogenheit geführten Disput
wird die Kutsche auf offener Straße abrupt zum Stehen
gebracht, die Tür aufgerissen. Ein Templertrupp hat sie
angehalten, der Anführer, er nimmt seinen Topfhelm nicht
ab, beugt sein Haupt ins Innere und spricht leise auf die
Hofdame ein. Seine Stimme ist durch die wenigen
Luftlöcher des Visiers stark verfremdet, doch reicht die
Mitteilung aus. Marie zögert keinen Augenblick, springt
hinaus, ergreift die dargebotene Eisenhaube, unter die sie
die verräterische Fülle ihrer roten Haare stopft, während
sie sich nochmals zu Melusine hineinlehnt.
»Ich überlaß Euch die Kutsche, nicht aber Eurem
Schicksal! Begeht keinen unbedachten Schritt, bevor Ihr
wieder von mir gehört, versprecht mir das?!«
Melusine nickt einverständig, ihre Freude mühsam
verbergend.
»Die Mannschaft wird Euch begleiten!«
Mit diesen Worten greift Marie de Rochefort in ihr
Gewand und zieht einen Beutel hervor, den sie Timdal
zuwirft. Dann springt sie auf das bereitgehaltene Pferd,
und die Kavalkade stiebt von dannen. Fröhlichen Muts
setzt Melusine die Reise fort. Der vor ihnen reitende
Vicarius Luc de Comminges tut so, als habe er den Vorfall
nicht bemerkt. Hingegen meldet sich der Mohr vom Dach
der Kutsche, streckt von oben seinen Kraushaarkopf in die
Fensteröffnung des Schlages.
»Ich habe ihn erkannt!« vermeldet Timdal stolz. »Der
falsche Komtur war niemand anders als Armand de
Treizeguet!«
Die überraschende Vorsichtsmaßnahme des Chevaliers
soll sich schon noch wenigen Meilen als berechtigt
erweisen. »Man hat es auf uns abgesehen!« kräht warnend
der Mohr. Da nähert sich schon Pferdegetrappel.
Aus einem Hohlweg, der auf die Straße mündet,
preschen Soldaten des Königs von Frankreich, wie
unschwer an den Lilien auf ihrem Tappert erkenntlich, und
wieder wird der Schlag der Kutsche aufgerissen.
Der französische Capitán hat bereits einen vor Wut
puterroten Kopf. »Wo steckt diese Marie de Rochefort?!«
brüllt er Melusine an, die so tut, als habe sie die Frage
nicht verstanden. Der Capitán hebt schon die Hand, da
mischt sich Étienne ein.
»Madame ist ausgeritten!« teilt er ungerührt mit, und
fängt sich den Backenstreich ein, den der Mann loswerden
muß.
»Ich warne Euch!« bellt er ohne weitere Erklärung die
jungen Damen an und knallt den Schlag wieder zu.
Die Franzosen reiten nach vorne von dannen. Timdal,
der sie im Auge behalten hat, vermeldet: »Die hat uns der
Herr Vicarius auf den Hals gehetzt! – Zu spät!« setzt er
feixend hinzu. »Der Capitán und unser Luc de Comminges
scheinen sich gegenseitig die Schuld zu geben, wenn ich
die unflätigen Wortfetzen recht verstanden habe, die im
Vorbeireiten zwischen ihnen hin und her flogen –.«
»Die hat der Teufel geschickt«, sagt Blanche besorgt,
»der Böse, der unserem
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