Das Kreuz der Kinder
Herrscher mit seinen Untertanen so schwierig –
vielleicht ist der Zug dieser deutschen Kinder, den Ihr
beschreibt, ein uneingestandener Versuch des Ausbruchs
aus solche unnatürlichen Zwängen?«
»Eine Sehnsucht als Sklave zu enden?« empörte sich
Rik. »Ihr wißt nicht, was ein Ritter ist!«
Der Emir lachte den Eifrigen aus. »In der Masse
offensichtlich junge, kräftige Männer, die in voller
Rüstung auf ein Pferd steigen – in der glückseligen
Hoffnung bald auf einen anderen der gleichen Spezies zu
stoßen, um sich mit ihm zu schlagen: Ihren Verstand
haben beide Zuhause gelassen!«
Rik schwankte, ob er auf diesen Affront eingehen sollte,
aber er fühlte sich eigentlich nicht beleidigt – nicht mehr!
»Was Ihr für dümmlichen Drang zu Abenteuern haltet, ist
in Wahrheit die nackte Not der Zweit- und Drittgeborenen,
denen nur der Waffendienst bleibt oder die klerikale
Laufbahn, wenn sie nicht als geächtete Raubritter enden
wollen – für Töchter der Eintritt ins Nonnenkloster oder
ein Leben als Kurtisane.«
»Seht Ihr«, freute sich der Emir, »auch die segensreiche
Einrichtung des Harem ist dem Abendland nicht vergönnt
– vor allem nicht seinen bedauernswerten Frauen!«
Rik dachte nur kurz nach. »Ihr glaubt, lieber Kazar AlMansur, ein junges Weib von Geblüt wie Melusine de
Cailhac wäre in Euren Harem eingetreten?!«
Der Emir reagierte unwirsch. »Angenommen, eine
solche Zuflucht, wie der Harem sie bietet, einziger Schutz
vor einer derart frauenfeindlichen Außenwelt, daß sie dem
Weibe jegliche Eigenexistenz abspricht!«
Dem Emir wurde gerade noch rechtzeitig klar, daß
erhöhte Lautstärke auch das beste Argument abschwächt.
»Angenommen, Melusine hätte dies nicht bei mir
gefunden, wie wäre es ihr dann ergangen? Rechtloses
Beutegut! Nichts anderes ist eine alleinreisende Frau, ohne
Mann, ohne Vater, ohne Brüder – Freiwild! Im Okzident
wie im Orient!«
Nachdenklich verabschiedete sich Rik von dem Emir
und schritt die Treppe hinunter, über den großen
Zwischenhof der beiden Paläste, hinüber zu der
Bibliothek, wo die anderen ihn schon erwarteten.
aus der Niederschrift von Mahdia
Die Kutsche der Hofdame
Bericht des Mohren
Die Lieblichkeit der Provence erschließt sich nur dem
willkommenen Gast, dem mittellosen Fremden streckt sie
den nackten Arsch ihrer Hügel entgegen, das nahe
Mittelmeer schlägt sich zwischen diesen Backen in
feuchter Schwüle nieder, selbst die schattenspendenden
Plantanen bleiben ihm vorenthalten, und wenn in der Glut
ein Wind aufkommt, bläst er dem müden Wanderer nur
Staub ins Gesicht. Als der Zug der französischen Kinder
bei Avignon die Rhone überquert und auf das verheißene
Marseille zuhält, hat er mehr als ein Drittel derer
eingebüßt, die sich einst zu Lyon versammelt hatten. Die
Städte, die am Weg lagen, hatten sich nur insofern
mildtätig erwiesen, daß sie den vor Erschöpfung
Zusammengebrochenen und des Hungers Sterbenden
Flöße anboten – gar ohne Geld dafür zu verlangen! Sie
trugen die Kranken und alle, die nicht mehr gehen oder
kriechen konnten, mit eigenen Händen auf die grob
behauenen Baumstämme, zahlten den Flößern sogar noch
Extralohn, damit sie dies Elend nicht länger vor den
Stadttoren liegen hatten. Abladen konnten sie die
stinkenden Bündel irgendwo im fieberverseuchten Delta
des Flusses oder in den Sümpfen der Camargue.
Wessen Füße noch tragen, der schleppt sich also weiter
voran gen Marseille, der Hafenstadt, die vielen im
Fieberwahn jetzt schon wie das gelobte Land vorschwebt,
das heilige Jerusalem! Vorneweg rollt immer noch das
geschmückte Wägelchen des ›Minderen Propheten‹,
wenngleich die Girlanden und Blumen inzwischen
zerzaust und verdorrt niederhängen, und auch auf das
eierlegende Federvieh muß er längst verzichten, das letzte
Huhn war – kaum gebraten – gierig zerrissen worden.
Gleich dahinter reitet der ›Vicarius Mariae‹ Luc de
Comminges und achtet darauf, daß keine Klage bis zu dem
von seinen Visionen wirr träumenden Stephan vordringt,
dann folgt – mit Abstand und von eigenen Bewaffneten
eskortiert die Kutsche der Hofdame Marie de Rochefort.
Sie beherbergt die uneinsichtige Melusine und
gelittenermaßen den kleinen Dieb Étienne und die
liebesbeseelte Blanche wenn sie nicht gerade, zum
Verdruß von Luc, zum Wägelchen von Stephan entwischt,
dessen leibliches Wohlbefinden sie sich zur freudigen
Berufung erkoren hat. Überhaupt ist dem
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