Das Kreuz der Kinder
Erzengel zurück und stoßen ihn fast
vor die Hufe des Gespanns, das samt der nachfolgenden
Kutsche der Hofdame in der blindlings vorwärts
malmenden Menge eingekeilt ist.
Melusine hatte Pol schon vorher erblickt, aber sie war
verärgert, daß er sich so gütlich mit dem Vicarius ins
Benehmen setzte und dann erst Stephan die Aufwartung
machte, bevor er sich nun um sie kümmert.
»Bleibt doch bei Eurem Propheten!« faucht sie ihn
gleich zur Begrüßung an. »So könnt Ihr zu den ersten
zählen, die trocknen Fußes –.«
»Dieser Stephan ist ein gemeiner, verantwortungsloser
Gaukler!« schimpft Pol wie ein Rohrspatz immer noch in
Richtung des Wägelchens, das in dem Malstrom der
Menge vor ihnen auf und abschaukelt, kaum daß der
kleine Prophet sich noch auf den Beinen halten kann.
Der hinzugeeilte Luc weist die Erzengel an, ihn vom
Bock herunterzuholen und dafür zu sorgen, daß das
zerbrechliche Gefährt nicht über die Kaimauer ins Wasser
geschoben wird.
»Betrüger?« wendet sich Melusine an den unschlüssig
vor dem Schlag ihrer Kutsche verharrenden Pol. »Betrüger
waren alle Propheten der Kirche – nur geschicktere!«
Hinter ihr bricht Blanche in Tränen aus.
»Und warum, edles Fräulein de Cailhac, seid Ihr dann
dem von allen Guten Geistern verlassenen Hirtenknaben
bis hierher gefolgt?«
Pol ist wütend über all den Unverstand rund um ihn
herum. »Jedes seiner Schafe hatte mehr Grips im Kopf!«
»Aber keine Visionen!« lacht Melusine den Erbosten
aus. »Stephan hat mich immerhin bis nach Marseille
gebracht –.« höhnt sie, »wo ich wohl nicht den Gesuchten
finden soll, dafür aber Euch schon wieder!«
Sie öffnet den Schlag und läßt den Knaben einsteigen.
»Willkommen unter den Auserwählten!« begrüßt sie ihn
versöhnlich. »Das ist Étienne, das ist Blanche!« stellt sie
ihre Gefährten vor. »Beides Liebhaber mit ausgeprägten
Schwächen für Beutel und Sack!«
Selbst Blanche muß unter Tränen lächeln, während
Étienne geflissentlich dem Neuankömmling Platz macht.
Pol geht auf Melusines Art zu scherzen nicht ein. »Ich
hoffe, daß Euch nunmehr die verliebten Augen geöffnet
wurden, Melusine de Cailhac, und so sollten wir
vordringlich alles dransetzen, diesem törichten Getümmel
zu entkommen!«
»Wie?!« schluchzt Blanche erschrocken, »Ihr glaubt
auch nicht an Wunder, daß sich das Meer nun für uns
öffnet?!«
Angstvoll starrt sie auf Pol, der sofort erkennt, wessen
Geistes Kind sie ist.
»Heute nicht mehr«, vertröstet er sie und hilft der
resoluten Melusine, die Kutsche gegen die immer noch
strömenden Massen zu wenden. Die Begleitmannschaft,
die ihr die Hofdame gelassen hat, ist ihr längst abhanden
gekommen. Sie gelangen schließlich außerhalb der Stadt
ans Meer, aber selbst hier lagern die Kinder
erwartungsvoll am Strand.
KAPITEL IV
IM FEGEFEUER
»Was wären wir ohne den gescheiten Timdal!«
Rik gab sich Mühe, seine Anerkennung durch leichten
Spott etwas abzumildern. »Zumindest, was das Geschehen
auf französischem Boden angeht –.«
Der Mohr strahlte, doch Rik bezweckte mit seiner
Einleitung lediglich, dem unsichtbaren Ohr etwas Balsam
einzuträufeln, bevor er zur Kehrtwendung schritt.
»Gleiches Recht für alle, nicht wahr, liebe Irm?«
Rik hatte die Styrum auch nur ins Spiel gebracht, weil es
ihm sein Vorhaben erleichterte. »Wir können einfach nicht
länger das Schicksal des braven Oliver von Arlon auf der
Strecke lassen, der mit seinem unbedeutenden Freund Rik
van de Bovenkamp mittlerweile durch die Ostschweiz
gezogen ist – von allen anderen Burschen von Geblüt gar
ganz zu schweigen –.«
Rik lauschte auf eine Reaktion, aber das Loch in der
Decke blieb stumm. »Auch wir nähern uns den Alpen –.«
setzte er drauf, »ob es nun dem Emir paßt oder –.«
»Nur zu, lieber Freund!« tönte es von der Tür. Kazar AlMansur war unbemerkt eingetreten, hinter sich eine
tiefverschleierte Frau, das Gesicht vom Gitterwerk einer
Burka verhüllt, wie nur bei streng islamischen
Volksstämmen üblich. Sie war von schlanker,
hochgewachsener Gestalt. Der Emir stellte sie mitnichten
den in der Bibliothek Versammelten vor, sondern schob
einen jungen Mann in den Raum, von stämmiger Statur
und schlichtem Gehabe, jedoch mit einem enormen
dunkelblonden Wuschelkopf, der von einer sehr
eigenwilligen Persönlichkeit zeugte.
Nur Timdal kannte und erkannte ihn. »Alekos!« jubelte
er. »Thalatta, thalatta!«
Der Mohr beeilte sich, den
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