Das Kreuz der Kinder
Prophet‹
hatte mit dem Wiedererlangen seines Thrones unter dem
Baldachin auch sein Sendungsbewußtsein wiedergefunden.
»Im Gegenteil!« verkündete er laut. »Die geballte Macht
unseres gemeinsamen Gebetes soll alle hier am Hafen
vereinen, die Toten sollen darin einstimmen und auch das
Volk von Marseille!«
Stephan sah sich triumphierend um. »Die ›Kleinen
Apostel‹ sollen sofort ausschwärmen wie treue Hunde und
die Herde hier zusammentreiben!«
Sein Hofstaat und die ›Erzengel‹ waren aufgesprungen,
wischten sich den Schlaf aus den Augen. »Das Meer das
Meer?!« schnatterten sie aufgeregt durcheinander. »Hat es
sich…?«
»Es wird sich teilen!« rief Luc und sprang neben den
Thronsessel. »Gehet hin in alle Quartiere«, befahl Stephan
den beglückten ›Aposteln‹ mit überschnappender Stimme,
»und weiset sie an, sich hier einzufinden –.«
»– denn ihrer ist das Himmelreich!« setzte der Vicarius
frohlockend hinzu, und wollte selbst enteilen, weniger um
die Nachricht zu verbreiten, sondern um sie zu unterlaufen
und so das Schlimmste zu verhindern. Doch Stephan hielt
ihn am Ärmel fest.
»Du bist kein ›Apostel‹!«
Als er das Erschrecken in den Augen seines Freundes
sah, lächelte er milde. »Denn dich will ich Tag und Nacht
an meiner Seite wissen!«
Und Luc antwortete mit hochrotem Kopf: »Dort bin ich,
wo ich geh’ und steh’.«
Doch Stephan ließ ihn nicht los.
»Jeder von euch«, wandte er sich an die ›Apostel‹, »soll
ein königliches Banner tragen und über tausend Herzen
gebieten!«
Der Vicarius sah ein, daß er sich – angesichts der
erregten ›Erzengel‹ – besser mit allem einverständig
zeigen sollte, auch wenn ein solches Massenaufgebot auf
dem kleinen Platz vor Saint-Jean mit Sicherheit zu einer
Katastrophe noch größeren Ausmaßes führen mußte, als
die Lawine von Menschenleibern verursacht hatte, die sich
am späten Nachmittag in den Hafen ergossen hatte. »Jeder
von Euch«, wies er die jungen Tausendschaftsführer an,
»ist für seinen Haufen verantwortlich.«
Luc besann sich der Prämisse, unter der sie sich bis
hierhin geschleppt – »Wenn dann das Meer sich teilt –.«,
doch Stephan nahm ihm das Wort aus dem Mund:
»Das Meer teilt sich!« rief er den ›Kleinen Aposteln‹ zu.
»Und wir werden in solcher Marschordnung nach
Jerusalem ziehen!«
Unter Hochrufen auf Stephan, ihren Propheten, rannten
sie los…
Im flackernden Schein der sie umgebenden Öllämpchen
legte die streng verhüllte Gestalt der Vorleserin mit
anmutiger Bewegung das Manuskript zur Seite und
gewährte ihrer fremdländisch klingenden Stimme die
verdiente Erholung. Um die Qaria lag die ›Sala al-Kutub‹
im Dunklen. Man konnte es fast knistern hören, wie
angestrengt die Anwesenden grübelten, wer die schlanke
Schöne denn wohl sein könnte. Besonders Rik ging alle
Möglichkeiten in seinem Kopf durch, denn er war sich
sicher, diese Stimme zu kennen. Der Emir enthob ihn des
Rätsels schneller Lösung. Er näherte sich der
Verschleierten mit ausgesuchter Höflichkeit, worauf sich
diese erhob und ihm wortlos folgte.
Es war Timdal, der das Schweigen brach. »Morgen
abend«, krähte der Mohr, sich damit als Eingeweihter zu
erkennen gebend, »geht’s weiter mit dem Bericht des
Alekos Kouridis – wohltuend vorgetragen von einer
Freundin des Hauses«, gab er sich geheimnisvoll und
verließ eiligen Schritts den Raum, um weiteren
Nachfragen zu entgehen. Alekos, der wortgewandte
Schankknecht aus Marseille, schloß sich ihm rasch an.
Ihm lag jetzt an keinem Gespräch, zu überwältigend war
es auch für ihn, nach so vielen Jahren mit den Ereignissen
von damals wieder konfrontiert zu werden, das damals
Niedergeschriebene plötzlich als gesprochene Geschichte
zu vernehmen.
Daniel, der fleißige Katib, hatte zum ersten Mal die
Muße gehabt, einer Geschichte zu lauschen und sie auf
sich wirken zu lassen, anstatt nur Worte zu erhaschen und
sie schnellstmöglich, doch leserlich auf Pergament zu
bannen. Aus Routine putzte er jetzt dennoch seinen
Federkiel mit der üblichen Sorgfalt, blies die Lichter an
seinem Pult aus und folgte den bereits Vorausgegangenen.
Rik blieb allein mit seinen Gedanken im kaum noch
erhellten ›Saal der Bücher‹ – sie verhakten sich – gegen
seinen Willen – bei Melusine. Ihre Macht über ihn nahm
eher zu, als daß sie sich abschwächen wollte –.
aus der Niederschrift von Mahdia
Das Wunder von Marseille
Weitere Kostenlose Bücher