Das Kreuz der Kinder
Bericht des Alekos
Tauris hieß jenes vorgelagerte, düster dräuende
Felseneiland vor der Einfahrt zum Hafen. Wie ein
wuchtiger Wellenbrecher ragte die von Wind und
Salzwasser gegerbte Festung aus dem Meer, wenig
einladend, diente sie doch je nach Zeitläufen auch als
Verwahrungsort für Lepröse und seit altersher als
gefürchteter Kerker. Auf ihr Garnisonsdienst abzuleisten,
galt schon als Strafe. Und doch hatten sich dort aus freiem
Willen Menschen angesiedelt. Guillem mit dem Beinamen
›das Schwein‹ hatte diesen nicht etwa ob seines Aussehens
erworben, sondern weil er die Küchenabfälle der Stadt in
riesigen Lastkähnen hier hinausfuhr. In den schon zu
phönizischen Zeiten geschlagenen Grotten verfütterte er
seine stinkenden Fuhren an dort von ihm gemästete
Muränen, die er dann für teures Geld an Gasthäuser
verkaufte, deren Klientel das fette Aalfleisch schätzte und
an der Nahrungskette keinen Anstoß nahm. Guillem sah
längst selbst aus wie seine gefräßigen Schlangen, ohne
jede Andeutung von Hals stieß sein Glatzkopf aus dem
unförmigen Körper, und seine flinken Augen zeugten von
erbarmungsloser Gier. In der Taverne ›Zum Traurigen
Schwertfisch‹ wußte man sich zu erzählen, daß
›Guglielmus Porcus‹ einst als Admiral der sizilianischen
Flotte gedient habe, bis man ihn wegen Unterschleifs
davonjagte. Er stand im Ruf, gegen gutes Geld auch ganze
Mannsbilder verschwinden zu lassen, die mit einem Dolch
im Rücken im Hafenbecken treibend nur unliebsames
Aufsehen erregt hätten. Unerwünschte Leibesfrucht
desgleichen, Folge heimlichen Liebeshandels, ward so
noch nutzbringend aus dieser elenden Welt geschafft.
In die Fänge dieses Monsters war Pol geraten. Das
Schwein hatte ihm die Füße zusammengebunden und war
mit ihm die Küste entlanggefahren, denn der Leichenberg
mitten im Hafen schien ihm wohl zu suspekt, zumal
mittlerweile die Sonne aufgegangen war, deren Licht
Guillem ebenso wie Menschen scheute, die ihn bei seinem
Treiben hätten beobachten können. So sammelte er überall
in den armseligen Randbezirken der Hafenstadt die
Kadaver ein, die das Meer ans Ufer schwemmte, er zerrte
sie aus dem Wasser, und Pol mußte die Leiber ordentlich
auf dem Boden der Barke schichten, dazu noch alles, was
die fette Sau sonst noch auffischte. Tote Katzen flogen
ihm genauso um die Ohren wie ertrunkene Möwen,
glitschige Tierhäute und geplünderte Fischreusen. Pol
stand bis zu den Knien in einem schleimigen Brei, er
würgte, übergab sich, aber er bezwang seinen Ekel. Wäre
er jetzt ohnmächtig umgefallen, das war ihm klar, nichts
hätte ihn mehr von der Fuhre – und deren Schicksal
unterschieden! Mit zusammengeballten Fäusten hielt er
sich aufrecht, versuchte etwas von der salzigen
Meeresbrise zu erhaschen, während der ihm zugewandte
breite Schweinerücken des Glatzkopfes die Barke jetzt zu
einer Felsinsel hinruderte, die vor der Stadt aus dem Meer
ragte. Pol dachte an die frisch aufgeschütteten Strohlager
in den Zimmern über der Taverne ›Zum Traurigen
Schwertfisch‹, von denen eines Melusine ihm als Quartier
angeboten hatte.
In dem zu Unrecht übel beleumundeten Gästehaus am
Hafen traf zur gleichen frühen Morgenstunde hoher
Besuch ein: der Inquisitor Monsignore Gilbert de
Rochefort. Ihn verlangte es, sich an Ort und Stelle von der
Arbeit seines Schützlings und Eleven Luc de Comminges
zu überzeugen, doch als erstes wünschte der Herr ein
Frühstück, bestehend aus ofenwarmem Brot von
Weizenmehl, drei Eiern in der Pfanne, unterlegt mit
zartem Speck, hauchdünn und knusprig, danach frische
Seeigel und in Weinessig eingelegte kleine Octopi, dazu
einen Krug vom Neuen aus Les Baux – der Herr war ein
Kenner. Der Schankknecht bediente ihn mit der freudigen
Aussicht auf ein gutes Trinkgeld, doch Monsignore
verging das Schmausen, als alsbald vom Kai her ein
Lüftlein den Geruch der kleinen Leichen in die Taverne
trug. Warum denn niemand diesen unappetitlichen Abfall
beseitige, wollte er wissen, und der Schankknecht
berichtete ihm, daß die Consoles der Stadt damit ›Guillem
das Schwein‹ beauftragt hätten, jedenfalls wenn es sich
um den Abfall vom Fischmarkt handele – und da der hohe
Herr unterhalten zu werden verlangte, erzählte der
Schankknecht ihm alles, was er über ›Guglielmus Porcus‹
wußte, daß er früher ein Admiral gewesen sei, sich aber in
Palermo nicht mehr sehen lassen dürfe. Sein einziger
Freund und
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