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Das Kreuz der Kinder

Das Kreuz der Kinder

Titel: Das Kreuz der Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Berling
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daß
der ihn jetzt nicht im Stich lasse! Hinter ihm stand seine
Leibwache und hielt trotzig die ›auriflamma‹ in die Höhe,
das Königsbanner mit den drei güldenen Lilien, das
Stephan sich zum Wahrzeichen seines Kreuzzugs erwählt
hatte. Sehr zum Ärger des Königs von Frankreich – wie
ihn gerade sein Berater Luc hämisch wissen ließ. Als
Gewährsmann des Monsignore Gil de Rochefort und
Diener der Kirche hingegen schmeichelt dem ›Vicarius
Mariae‹ diese bisher gelungene Insubordination gegenüber
der Krone ungemein.
    Stephan hingegen litt unter der Situation. In den frühen
Morgenstunden, als alle noch schliefen, hatte er sich,
verhüllt in ein Mönchsgewand, das ihm ein Novize des
Klosters von Saint-Jean überlassen hatte, die Kapuze tief
ins Gesicht gezogen, hinausgeschlichen an den Kai mit
den toten Kindern und sich zwischen ihnen zu Boden
geworfen. Lange hatte er bäuchlings liegend auf das Meer
hinausgestarrt, flehentlich um das Wunder gebetet, doch
nichts hatte sich ereignet. Gleichmäßig klatschte das
Wasser des Hafenbeckens gegen die Kaimauer. Stephan
konnte unter sich zwar die Fischlein zwischen den Algen
des verschlammten Grundes beobachten, aber keine
schneeweiße Hand teilte die trüben Wogen. Bitterlich
enttäuscht war er zurückgehastet, als er einen verrotteten
Lastkahn genau auf die Stelle zuhalten sah, an der er sich
verborgen hatte Die Einstellung seines Freundes Luc
enttäuscht ihn sehr. Hatte der junge Domenikaner doch für
ihn damals den wichtigen Brief an den allergnädigsten
König geschrieben, in dem er dartat, daß Gott selbst, ihm,
dem einfachen Hirtenknaben diesen Kreuzzug der Kinder
befohlen hätte. Jetzt schmückte Luc sich zwar mit dem
Titel eines ›Vicarius Mariae‹, aber gebärdete sich plötzlich
so, als habe er mit allem nichts mehr zu tun!
    Luc de Comminges war das Ganze zunehmend peinlich.
Er schalt sich einen Narren, daß er daran geglaubt hatte,
der Herr könne selbst an einem so schlichten Gemüt wie
Stephan, eines seiner Wunder vollbringen. Er hatte sich
schlafend gestellt, als dieser ›Mindere Prophet‹ des
Morgens heimlich den Kreuzgang verließ und ans Meer
geeilt war. Er war ihm unauffällig bis unter den Portikus
der Kirche gefolgt und hatte sein Tun genau beobachtet.
Er sah wie Stephan mit den Fäusten auf den Granitstein
der Hafeneinfassung eintrommelte, doch das Meer hatte
sich nicht geteilt.
    Das überstürzte Aufspringen und die Flucht zurück, an
ihm vorbei, der sich hinter einer Säule versteckt hielt,
bestätigte ihm seinen Argwohn, daß Gott diesen
verwirrten Geist nicht auserkoren hatte, um seine
Allmacht über die Meereswogen zu beweisen. Dafür sah
er wie die verrottete Barke am Kai festmachte und eine
unförmige Gestalt, ein weißhäutiger Polyp, sich an seinen
Tentakelarmen die Mauer hochzog, sein Glatzkopf schien
aus den Schultern zu wachsen, während seine
Quallenaugen begehrlich die Kadaver der Kinder
inspizierten. Völlig überraschend sprang ein Lebender
zwischen den Leichen auf und wollte wegrennen, doch die
langen Fangarme des Monsters hatten schon
zugeschlagen, die Beute umgarnt.
    Luc erkannte in dem stumm sich windenden Opfer den
lästigen Bekannten des Fräuleins de Cailhac, diesen Pol.
Auch wenn der Kerl hellsichtig genug war, um den Irrsinn
des ›Minderen‹ zu durchschauen, seine, Lucs Kreise, sollte
er nicht stören! Der ›Vicarius Mariae‹ überlegte nur kurz,
ob er eingreifen sollte – nein, recht geschah es dem
Störenfried! Mit Genugtuung sah er, daß der Bursche wie
ein zappelnder Fisch – hinunter in die Barke geschleudert
wurde, die gleich darauf wieder von der Krake vielarmig
davongerudert wurde.
    Er, Luc de Comminges, hatte diesen Kreuzzug
maßgeblich mit ausgelöst – dieser Hirtenknabe Stephan
würde ohne ihn heute noch seine Schafe im Wald von
Forlat hüten! So mußte es auch in seiner Hand liegen, ob
er ihm zum Erfolg verhelfen wollte – oder scheitern ließ!
Vielleicht hatte ja Gott noch ein Einsehen – oder der Herr
Jesus kam selbst, um sie alle hinüber ins Gelobte Land zu
führen? Luc betete zur heiligen Jungfrau, auf die er sich
stets verlassen konnte. Dann trat er forsch vor den Knaben
Stephan und schlug ihm vor, die Scharen rechts und links
am Ufer der Küste zu verteilen, um die Marseiller, deren
Hafen er mit seinem Heuschreckenschwarm von
zigtausend Kindern seit gestern lahmgelegt habe, nicht
noch weiter zu verärgern. Doch der ›Mindere

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