Das Kreuz der Kinder
Schiffchen hin und her – so entsteht
–.«
»Ihr habt die Schafe vergessen, denen das Fell geschoren
wurde«, sagte Rik mit bitterem Spott, »der Teppich ist
auch ihre Geschichte.«
»Wohl wahr«, fügte Timdal sinnend hinzu, »wir sollten
ihrer öfter gedenken, wenn wir, die Überlebenden, uns
wohlig auf diesem flauschigen Lager niederlassen oder
uns wegen ein paar Wollfäden unbestimmter Herkunft in
die Haare geraten – von irgendeinem guten Schaf
stammen sie in jedem Fall!«
Rik schaute ihn erstaunt an. Er hatte den kleinen Mohren
nie sonderlich ernst genommen. Er tat insgeheim allen
Abbitte, diesem Alekos insbesondere. Er verzichtete auch
darauf – was er sich eigentlich vorgenommen hatte –, den
Emir zur Rede zu stellen, daß er ihn, den treuen Freund
und ›Erzieher des Prinzen‹ nicht ins Vertrauen gezogen
hatte, was die Identität der geheimnisvollen ›Eldjinn‹
anbetraf. Er, Rik van de Bovenkamp, war wirklich nicht
mehr als ein Wollfaden, ein Schafsbock, der mit viel
Glück dem Messer des Schlachters entgangen war. Dafür
sollte er Allah danken!
aus der Niederschrift von Mahdia
Das Wunder von Marseille
Bericht des Alekos
Die Stadt Marseille glich einem riesigen Heerlager. Doch
wenn sonst zur Verschiffung einquartierte Truppen teils
als Umsatzbringer bei Händlern und Huren willkommen
waren, teils von der Bevölkerung nur aufgrund ihrer
mitgeführten Waffen zwangsweise geduldet wurden, stieß
dieser Kreuzzug der Kinder auf einhellige Mißbilligung.
Die zerlumpten Haufen hatten weder Waffen, vor denen
man sich in Acht nehmen mußte, noch Geld, das man
ihnen aus der Tasche ziehen konnte. Nicht einmal die
Straßenräuber und Beutelschneider kamen auf ihre
Kosten.
Die Kinder lungerten überall herum, klauten und stahlen
sich ihren Lebensunterhalt zusammen, verrichteten ihre
Notdurft in den engen Gassen und bedrängten als
fordernde, aufsässige Bettler selbst die armen Bürger, die
auch nichts hatten. Nicht einmal die Kirchen waren
glücklich über die kleinen Pilger, die längst alle
Gotteshäuser in Beschlag genommen hatten, schon weil es
darin kühler war des Tages und trockener des Nachts. Sie
sangen zwar ständig fromme Lieder und beteten auch laut,
wenn sich ein Priester zeigte, aber sie hielten die
Gemeinde vom Kirchgang ab, und die Opferstöcke hatten
sie längst gewaltsam entleert. Und so wie die
Eindringlinge den Gang durch gewisse Gassen zum
Spießrutenlaufen für deren Bewohner machten, so rotteten
sich diese bald zusammen und nahmen lautstark drohende
Stellung ein. So empfand es Timdal zusehends, wobei der
Mohr es geflissentlich vermied, sich zu irgendwelchen
herumstreunenden Gruppen zu gesellen, so daß ihn auch
keiner für einen Teilnehmer des Kreuzzugs hielt.
Um der vom Liebeskummer geplagten Melusine, die er
als seine neue Herrin von ganzem Herzen verehrte, eine
Freude zu bereiten, hatte er sich auf die Suche nach ihrem
blonden deutschen Ritter gemacht. Doch statt dessen traf
er nur auf Luc de Comminges. Der ›Vicarius Mariae‹ irrte
ziellos durch die Stadt, keineswegs gewillt, den Befehl
Stephans zu verbreiten, daß alle in ordentlichen Haufen
am Morgen nach Saint-Jean kommen sollten, um sich
dann an den Händen zu fassen und als lebende Kette das
Meer zu beschwören. Mit Timdal hatte er nichts im Sinn,
außer, daß er den Mohren aufforderte, schleunigst in die
Taverne ›Zum Traurigen Schwertfisch‹ zurückzukehren
und seine Herrin zu ermahnen, das schützende Haus nicht
zu verlassen, denn in der Stadt braue sich Unheil
zusammen. Das aber hatte auch Timdal längst begriffen,
und so trennten sich ihre Wege wieder.
Der Vicarius suchte und fand auch einige der
ausgesandten ›Kleinen Apostel‹ in den diversen
Quartieren, meist auf Plätzen vor irgendwelchen Kirchen
oder um Brunnen gelagert. Auch die Aufforderung zum
Fasten unterließ er geflissentlich, die meisten hatten
ohnehin nichts zum Knabbern, dafür waren erstaunlich
viele betrunken. Was Luc gezielt verbreitete, war die
Nachricht, daß, wenn am nächsten Tag nicht das
versprochene Wunder geschehe, der Kreuzzug dieses
undankbare, ungastliche Marseille verlassen würde. Doch
er stieß auf allgemeine Apathie, nur wenige hegten noch
die freudige Glut der Zuversicht, waren guten Mutes, die
meisten wirkten müde oder gereizt, der Hunger und die
Feindseligkeit, die ihnen zunehmend entgegenschlug,
hatten sie taub gemacht. Die ›Apostel‹ hörten sich ihren
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