Das Kreuz der Kinder
›Vicarius Mariae‹ zwar an, aber ihre Herzen erreichte er
nicht dazu hätte es Stephans Auftreten bedurft, doch der
hockte in seinem Kreuzgang und haderte mit seinem Gott.
Luc beschwor die Anführer der einzelnen Haufen, eng
beisammenzubleiben und die Bürger der Stadt nicht
unnötig zu provozieren. Dann strebte er weiter zu den
nächsten. Längst spürte er, wie hinter ihm lange Schatten
wuchsen und unsichtbare Hände nach ihm griffen. Er
hetzte durch die Straßen, die plötzlich wie ausgestorben
vor ihm lagen –.
Timdal kehrte in die Taverne am Hafen zurück, die
Leichen waren fast alle von der Kaimauer verschwunden.
Statt ihrer lagen an der gleichen Stelle jetzt Kinder, die
sich dorthin geschleppt hatten, Sterbenskranke, von
diesem Ort des Todes angezogen oder von ihren
Kameraden auf den nackten Steinen abgelegt. Blanche und
einige andere junge Frauen gingen gebückt zwischen
ihnen herum und flößten den Erschöpften Wasser ein.
Melusine erschien gerade in der Tür mit zwei weiteren
Eimern. Timdal nahm sie ihr ab und schickte sie ins Haus
zurück. Melusine lächelte ihren Mohr dankbar an und
befolgte die energische Aufforderung. Der so unmittelbare
Dienst am Nächsten, zumal in dieser Häufung und
Hoffnungslosigkeit, drohte ihre Kräfte zu übersteigen. Im
Schankraum saß Monsignore Gilbert, der Inquisitor, und
beobachtete bei vollem Krug besorgt die Vorgänge vor
dem Haus. Draußen fiel schnell die Dämmerung. Melusine
überwand sich und nahm einen kräftigen Schluck vom
angebotenen Wein.
Timdal berichtete von regelrechten Plünderungen und im
Gegenzug von den ersten Schlägereien, die bei allem
aufgestauten Haß schnell in blutige Gewalt umschlugen.
Es soll bereits Tote gegeben haben. Noch sei die Stadt
nicht in Aufruhr, aber viel fehle nicht mehr – Marseille
gleiche einem Faß mit ›griechischem Feuer‹: Wenn es
erstmal explodiert ist, dann sei der Brand mit Wasser nicht
mehr zu löschen! – Gilbert de Rochefort starrte düster
hinaus in die sich herabsenkende Nacht. Beim Schein der
herumhuschenden Fackeln sah alles da draußen noch
bedrohlicher aus. Er wollte sagen, ›laßt uns beten!‹,
unterließ es aber und goß sich aus dem Krug nach.
Im Kreuzgang von Saint-Jean lief Stephan bedrückt auf
und ab. Den Ort zu verlassen traute sich der ›Mindere
Prophet‹ nicht mehr. Alles, was ihm von seinen
›Erzengeln‹ oder den nur noch vereinzelt auftauchenden
›Kleinen Aposteln‹ aus der Stadt zugetragen wurde, nahm
ihm jeglichen Mut, sich hinaus in die Nacht zu begeben.
Auf der anderen Seite nagten an ihm Zweifel, ob es richtig
war, den ›Vicarius Mariae‹ damit zu beauftragen, alle
notwendigen Schritte für den morgigen Tag vorzubereiten.
»Das Meer, das Meer!« seufzte er, als nur Étienne in der
Nähe war, denn die ›Erzengel‹ hatten am Thronsessel ein
Feuer entzündet, um sich gegen die feuchte Kühle zu
schützen, die jetzt durch das Gemäuer zog.
»Es wird sich für uns teilen«, beschwor er Étienne, »es
muß!«
Der war das Gejammer ebenso leid wie den ständigen
Zuspruch: »Was machen wir eigentlich, wenn es dann
geschieht?« fragte er mit scheinheiliger Unbefangenheit.
»Wie lange werden wir über den Meeresgrund ziehen?
Wie mag er beschaffen sein? Womit werden wir unseren
Hunger stillen?«
Stephan starrte ihn entgeistert an, sprachlos, aber hinter
einer Säule ließ sich Luc vernehmen. »Noch nie vom
himmlischen Manna gehört!?«
Er trat vor Stephan. »Damit speiste der Herr sein Volk
auf dem Zug durch die Wüste, warum sollte er es seinen
Kindern verweigern?«
Der Vicarius warf seinem Nebenbuhler noch schnell
einen Brocken hin: »Vom Beutelschneiden könnt Ihr Euch
dort jedenfalls nicht ernähren –.«
Bevor Étienne sich auf Luc stürzen konnte, schob sich
Stephan zwischen die beiden Kampfhähne. »Wenn die
Hirten sich streiten, verläuft sich die Herde!« mahnte er
väterlich und wandte sich an Luc. »Fasten sie?« begehrte
er als erstes von seinem Vicarius zu hören. »Werden sie
die Kette bilden?«
Luc lachte bitter. »Wir müssen die ›Apostel‹ ihres Amtes
entheben, sie austauschen gegen die Gardisten!«
Er hatte sich seine Forderungen, seine Vorgehensweise
genau überlegt. »Nur die berittenen Burschen von Adel
sind in der Lage, die Disziplin herzustellen, derer der gute
Fortgang dieses Unternehmens bedarf. Ich selbst werde sie
führen!«
»Das bisherige Unglück und große Leid«, hielt ihm
Étienne
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