Das Kreuz des Zitronenkraemers
das Jahr 1656. Gustavo war mittlerweile ein angesehner Rechtsgelehrter. Giulia war guter Hoffnung. In wenigen Monaten erwartete sie ihr erstes Kind. Ambrosius rieb sich die müden Augen.
„Signore Carove!“ Albert stand mit einer Kerze in der dunklen Kammer und sah ihn erwartungsvoll an. Ambrosius hatte ihn fast vergessen. „Was ist denn? Ich habe noch viel zu tun.“ Ambrosius wollte nicht gestört werden, er arbeitete an seiner Buchhaltung und schob dabei Geldbeträge von einer Lücke zur nächsten.
„Verzeiht, aber Ihr müsst kommen, zur Baustelle, es ist etwas geschehen.“
Mühsam erhob sich Ambrosius aus seinem Stuhl und legte die Feder beiseite. Dank Gustavos Großzügigkeit durfte er dessen Arbeitszimmer benutzen.
„Ich komme“, seufzte Ambrosius in der Erwartung weiterer Probleme, die ihm vielleicht das Genick brechen konnten, „lass Boltera suchen, er soll ebenfalls kommen.“ Albert verneigte sich und ließ Ambrosius den Vortritt.
Von weitem hörte er das erbärmliche Geschrei eines Jungen. Ambrosius rannte die letzten Schritte bis zu seiner Baustelle. Die Arbeiter hatten sich am Grund des ausgehobenen Kellers versammelt und versperrten die Sicht auf den Ursprung des Geschreis. Er kletterte eilig hinunter. „Aus dem Weg“, brüllte er unwirsch und schaufelte sich mit den Ellbogen durch die Menge. Alle hatten die Arbeit niedergelegt.
Am Boden lag ein Junge, vielleicht 11 oder 12 Jahre alt. Sein Gesicht war rot und verzerrt vor Schmerz und Heulen. Ein Mann in pechschwarzer Kleidung zog und schob am rechten Bein des Jungen herum. Der Fuß stand unnatürlich ab und war nach außen verdreht. Offensichtlich hatte er sich das Bein gebrochen. Der Knocheneinrichter versuchte, es wieder in die richtige Position zu bringen. Endlich knirschte es laut hörbar und der Mann verlangte nach einem starken Scheid Holz in der Länge des Beines. Das Holz band er so fest er konnte um das nun wieder halbwegs gerade gerichtete Bein. Der Junge hatte aufgehört zu schreien. Er hatte das Bewusstsein verloren.
Ambrosius schluckte und griff nach seiner Börse. Er wollte den Knocheneinrichter bezahlen. Vermutlich hatte man ihn deshalb herrufen lassen.
Aber einer der Steinmetze hielt ihn auf. „Wartet, dies übernimmt die Zunft.“ „Wer ist dieser Junge?“, wollte Ambrosius wissen und steckte zögerlich seine Börse wieder ein. „Dies ist Jacob.“ Der Knabe war immer noch ohne Bewusstsein und wurde langsam und vorsichtig von den Arbeitern aus der Grube gehoben. „Er ist Waise. Sein Vater, ein Steinmetz unserer Zunft, ist im letzten Jahr verunglückt. Bei Ausbesserungsarbeiten am heiligen Dom zur Vorbereitung für die Heilig Rock Weisung ist er vom Turm gestürzt. Gott der Herr sei ihm gnädig.“
Ambrosius musste an sein Glück im letzten Jahr denken, welches er zu eben dieser Angelegenheit tief im Inneren seines Herzens verspürt hatte. Sein erstes Jahr in der neuen Heimat und der neue Erzbischof Karl Kasper von der Leyen hatte verfügt, dass das Gewand den Menschen zur Huldigung gezeigt werden solle. Phillip Christoph war ein Jahr nach Ambrosius erster Reise nach Trier verstorben.
Zum Zweck der Heilig Rock Zeigung war der ganze Dom ausgebessert, entstaubt und die Fenster erneuert worden. Der Nikolauschor war mit Brettern verschlossen worden, in die eine Tür zum Ein- und Ausstieg eingelassen war. Innen war eine Bühne aufgestellt und hinter starken Schranken taten so viele Wachmänner Dienst, wie nur hineinpassten. Stunden hatte Ambrosius zusammen mit Gustavo in der Reihe aus Pilgern gestanden, um der Schauung beizuwohnen. Große Ehrfurcht und Dankbarkeit hatte ihm beim Anblick des Gewandes erfüllt.
Der gleiche Anlass, der Ambrosius soviel Freude bereitet hatte, hatte also gleichzeitig das Leben vom Vater dieses armen Jungen gefordert. Der Allmächtige ließ Freude und Leid eng nebeneinander geschehen.
„Hört Ihr mir zu?“ Der Steinmetz rief Ambrosius in die Gegenwart zurück. „Daher kümmern wir uns um den Burschen. Er ist von einer Familie der Zunft aufgenommen worden.“
„Was ist mit seiner Mutter?“ Der Steinmetz spuckte zu Boden. „Sie war eine Hexe.“ Schnell schlug er das Kreuz. „Ihre verteufelte Seele ist dem Feuer übergeben worden, als Jacob noch ein kleines Kind war.“
Ambrosius sog scharf die Luft ein, er empfand großes Mitleid mit dem armen Wicht.
„Aber darum habe ich Euch nicht rufen lassen. Folgt mir bitte.“
Ambrosius stapfte dem Mann hinterher, die Menge tat es ihm
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