Das Kreuz des Zitronenkraemers
sprang Anne auf. Sie verstaute die Anzeige in ihrer Handtasche. Im Gegenzug kramte sie ihren Autoschlüssel heraus und verließ das Büro. Draußen im Flur wurde sie von ihrer verdutzen Chefin aufgehalten. „Anne, wo willst du denn hin?“
Anne lief einfach weiter. Sie war schon an der Tür, als sie sich nochmals umdrehte: „Kann ich jetzt nicht erklären … ich muss was dringendes erledigen … “ Mit diesen Worten war sie draußen.
Anne kämpfte sich in ihrem Auto durch die verstopfte Paulinstraße. „Verdammter Idiot“, schrie sie den Fahrer in einem alten Senator an, der vor ihr wie ein dicker Mistkäfer die Spur blockierte und trotz grüner Ampel scheinbar den ersten Gang nicht fand. Dann wieder rot. Sie musste warten. Nervös trommelte Anne auf ihr Lenkrad. Endlich ging’s weiter. Blinker rechts. Anne ließ die Porta Nigra links liegen und war froh, dass der Verkehr in der Nordallee ein zügiges Tempo zuließ. Am Krahnenufer ordnete sie sich frühzeitig auf die linke Fahrspur ein, dachte am Pacelliufer gerade noch rechtzeitig an die hier häufigen Geschwindigkeitskontrollen der Polizei und stieg aufs Bremspedal, bevor sie den unauffällig geparkten grauen Wagen am Straßenrand passierte. Bald konnte sie den Blinker wieder links betätigen und fuhr mit immer schneller werdendem Atem die Pellinger hoch. Gleich würde sie dort sein. Noch einmal links ab. Sie sah bereits das Ortsschild: Feyen.
Anne parkte in einer Seitenstraße. Noch einmal nahm sie die Todesanzeige aus ihrer Tasche. Auguste Margareta Maria Schönemann. Geborene Carove. Anne las laut. Geborene Carove. 10. Januar 1910 bis 02. Juli 2006. Geborene Carove. „Es gibt keine lebenden Caroves mehr in Trier“, hörte Anne in ihrer Erinnerung Jutta sagen. „Hab ich gecheckt, im Telefonbuch … “ Geborene Carove. Nein, es gab keine Caroves mehr in Trier. Die letzte hatte irgendeinen Schönemann geheiratet.
„Du konntest die Erfüllung deines Traums nicht mehr erleben. Dein dich liebender Sohn, Anton“
Anton. Anton Schönemann.
Mit zitternden Händen und weichen Knien stieg sie aus. Anne schaute weder rechts noch links. Geradewegs steuerte sie auf den kleinen Laden zu. Keine Werbetafel stand heute draußen. Hinter der Glasscheibe war kein Licht zu erkennen. Alles dunkel. Das farbige Wappen mit dem Karren und den Vögeln auf dem Schaufenster wirkte dadurch grau und düster.
Eine verschwommene Erinnerung: „Bis jetzt habe ich noch nicht einmal gewusst, dass es sich dabei um ein Wappen handeln soll.“ Dazu das nette Lächeln des Verkäufers mit seinen grauen Locken und der grünen Schürze. „Lügner“, schoss es Anne durch den Kopf, „du bist ein Carove Nachfahre und willst euer eigenes Wappen nicht kennen?“ Sie trat zur Einganstür. An der Innenseite war ein Stück grauer Karton mit Klebestreifen befestigt. „Wegen Trauerfall geschlossen.“
Anne ging um das Haus herum. Durch einen Gang zum Nachbarhaus getrennt erreichte sie einen kleinen Hinterhof. Dort stand der blaue Lieferwagen. Ein rostiger Fiat. Dunkelblau. Auf der Scheibe der Hecktür das Carovewappen. Ebenfalls bunt wie das im Schaufenster. Die hinteren Scheiben getönt. Das Auto war hier. Anne wurde mulmig zu Mute. Er war zuhause. Anne blickte nach oben zu den Fenstern im ersten Stock. Ihr Atem setzte für einen kurzen Moment aus. Hatte sich dort eine Gardine bewegt?
Anne war sich nicht sicher. Vielleicht war es auch nur ein Lichtspiel. Verursacht durch die Sonnenstrahlen, die sich in der Scheibe spiegelten. Angst und Schrecken krochen in Anne empor. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare stellten. Abrupt machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Hinterhof schnellen Schrittes. Endlich wieder auf der Straße rannte sie förmlich zu ihrem Wagen und stolperte mehrfach. Verdammte Pumps. Anne beschloss, nach Hause zu fahren. Sie würde eine Liste machen. Alle Verdachtsmomente zusammentragen. Dann würde sie erneut versuchen, Hannes zu erreichen. Vielleicht hatte er eine Idee, wie sie weiter vorgehen sollten.
Hoffentlich hatte der Kerl sie nur nicht gesehen.
Anne setzte sich mit Zettel und Stift an den Esstisch. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit war ihr nach einem Schnaps zumute. Aber sie musste einen klaren Kopf behalten. Also stand eine dampfende Tasse mit heißer Schokolade vor ihr. Das beruhigt auch, redete Anne sich ein, selbst bei 30°C draußen.
Anne nahm den Stift aus dem Mund und schrieb. Alles was ihr einfiel. Alles, was ihr zu Anton Schönemann einfiel.
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