Das kritische Finanzlexikon
wahrscheinlich auch nicht lebensfähig). Ausreißer bei Quantitäten aus Mediokristan beeinflussen die Ergebnisse also nur unwesentlich.
In Extremistan gibt es hingegen Ausreißer, die einen überaus großen Einfluss auf Ergebnisse haben. Die Skala ist nach oben offen. Dies kann man nicht nur an unserem Eingangsbeispiel mit dem VW-Chef Winterkorn, sondern auch an der jährlich veröffentlichten Milliardärs-Rangliste des amerikanischen Wirtschaftsmagazins Forbes anschaulich nachvollziehen. Superreiche wie der Mexikaner Carlos Slim oder der Microsoftgründer Bill Gates können ihrem zweistelligen Milliardenvermögen pro Jahr in der Regel mehrere Milliarden hinzufügen. Neben Einkommens- und Vermögensgrößen befinden sich auch Verkaufszahlen von Buchautoren oder Schäden beziehungsweise Todesopfer durch Naturkatastrophen in Extremistan.
Ebenso wie Finanzmärkte. Und jetzt kommen die Finanzanalysten ins Spiel. Die treten nämlich mit dem Anspruch auf, sie seien in der Lage, die Kurse von Aktien oder Indizes vorhersagen zu können.
Es gibt zwei Methoden, die Finanzanalysten zur Vorhersage von Börsenkursen oder Indexentwicklungen anwenden, um so zu Kauf- oder Verkaufsempfehlungen zu gelangen, wobei sich diese Methoden meist überlappen – eine bestimmte Prognose beinhaltet daher in der Regel Elemente aus beiden Ansätzen.
• Die Fundamentalanalyse arbeitet mit der Zielvorstellung, den »inneren Wert« eines Gutes oder Marktes zu bestimmen. Zur Fundamentalanalyse der X-Aktie wird dabei in einem ersten Schritt das Unternehmen mit seinen Jahresabschluss-Kennzahlen untersucht. Im zweiten Schritt widmen sich die Analysten der Branche, in der das Unternehmen tätig ist. Schließlich wird, in einem dritten Schritt, die allgemeine Wirtschaftslage (Konjunktur, Zinsniveau am Geld-/ Kapitalmarkt etc.) einbezogen. Man hangelt sich von der Mikroebene zur Makroebene.
• Die technische Analyse arbeitet mit Kursmustern, sogenannten charts . Man studiert Marktbewegungen in der Vergangenheit und versucht daraus zukünftige Bewegungen abzuleiten. Das klingt teilweise ganz lustig. Ein »Dreifachhoch« wird hier nicht am Geburtstag gesungen, vielmehr signalisiert es einen Kursrückgang. Wenn es drei Mal hintereinander zum (Kurs-)Höhepunkt gekommen ist und die Umsätze dann auch noch zurückgehen, droht der Aktie ein Einbruch – sagen die Chart-Exegeten.
Im Grunde genommen basieren beide Ansätze auf der naiven Annahme, man könne aus dem Studium der Vergangenheit zuverlässige Prognosen für die Zukunft ableiten. Dies wird bei der technischen Analyse besonders deutlich. Aber auch die Fundamentalanalysten schreiben Vergangenheitsbeobachtungen in die Zukunft weiter fort und drehen sich dabei ebenso im Kreis wie die technischen Analysten.
Wenn jemand zwanzig Mal an derselben Stelle über eine Straße geht, heißt das noch lange nicht, dass genau dies beim einundzwanzigsten Mal wieder passiert. Ein Unfall, ein Freund, der an der nächsten Ecke wartet, ein Gedanke, der den Fußgänger ablenkt, all dies kann das Ergebnis in nicht vorhersehbarer Weise beeinflussen. Die Realität ist »überkomplex«; man kann sie weder durch Strickmuster noch durch bombastische mathematische Berechnungen von Liquiditätserwartungen, Branchenaussichten oder Wechselkursentwicklungen zuverlässig in den Griff bekommen.
Hinzu kommen die Schwarzen Schwäne. Selbst wenn ein Hochleistungs-Computerprogramm in der Lage wäre, über einen verschachtelten Algorithmus die Entwicklung nahezu aller für die Entwicklung der X-Aktie relevanten Faktoren korrekt in eine konkrete Handlungsempfehlung umzuwandeln – nur ein einziges unvorhersehbares Ereignis, eine Naturkatastrophe mit immensen Auswirkungen, ein Terroranschlag oder auch »nur« das unerwartete Ableben des erfolgreichen Vorstandvorsitzenden der X-AG, würde alle Berechnungen ad absurdum führen.
Schwarze Schwäne scheinen in unserer komplizierter werdenden und total vernetzten Welt leider auch immer häufiger aufzutreten. Nassim Nicholas Taleb gelangt daher zu dem schlichten Fazit: »Wir können einfach keine Vorhersagen machen«. Oder, um es mit Karl Valentin auszudrücken: »Prognosen sind schwierig, vor allem wenn es um die Zukunft geht.«
Solche Sätze müsste man der Finanzindustrie ins Poesiealbum schreiben. Vielleicht ist deren Vertretern das nicht so ganz bewusst. Vielleicht sind hier aber auch nur → Zyniker am Werk, die im Grunde genommen wissen, dass ihre schwülstigen Formulierungen zu
Weitere Kostenlose Bücher