Das krumme Haus
Mühe lösten wir uns aus der gefühlsgeladenen Atmosphäre dieses Zimmers, und dann standen wir wieder vor der Wohnungstür auf dem Treppenabsatz.
»Puh!«, stieß Taverner hervor. »Was für unterschiedliche Brüder!« Etwas zusammenhanglos fügte er hinzu: »Zimmer sind seltsam. Sie erzählen eine ganze Menge über ihre Bewohner.«
Ich stimmte ihm zu, und er fuhr fort: »Seltsam auch, was für Menschen einander heiraten, nicht wahr?«
Ich wusste nicht recht, ob sich seine Worte auf Clemency und Roger oder auf Magda und Philip bezogen. Sie passten auf beide Paare. Doch schien mir auch, dass man beide Ehen zu den glücklichen zählen könnte – vor allem die von Roger und Clemency.
»Ich würde Roger Leonides nicht für einen Giftmörder halten«, sagte Taverner. »Allerdings kann man nie wissen. Der Frau würde ich’s eher zutrauen. Kennt keine Nachsicht. Ist vielleicht ein bisschen verrückt.«
Wieder stimmte ich zu. »Aber ich glaube nicht«, schränkte ich ein, »dass sie einen Menschen ermorden würde, nur weil sie andere Anschauungen hat. Wenn sie den Alten wirklich gehasst hätte… aber kommt es überhaupt vor, dass ein Mord nur aus reinem Hass verübt wird?«
»Sehr selten«, antwortete Taverner. »Ich selbst habe noch keinen solchen Fall erlebt. Nein, wir tun wohl besser daran, uns an Mrs Brenda Leonides zu halten. Der Himmel mag wissen, ob wir jemals einen Beweis finden werden.«
8
E in Dienstmädchen öffnete uns die Tür des gegenüberliegenden Flügels. Es sah erschrocken, aber auch leicht verächtlich aus, als es Taverner erblickte.
»Möchten Sie Mrs Leonides sprechen?«
»Ja, bitte.«
Das Mädchen führte uns in einen großen Salon und entfernte sich.
Der Raum entsprach in seinen Größenverhältnissen dem Salon im unteren Stock. Hier gab es bunten, sehr fröhlichen Möbelkattun und gestreifte Seidenvorhänge. Über dem Kamin hing ein Porträt, das meinen Blick gefangen hielt, nicht nur weil es von Meisterhand gemalt war, sondern weil das Gesicht des Porträtierten mich fesselte.
Es war das Porträt eines kleinen, alten Mannes mit dunklen, durchdringenden Augen. Er trug ein schwarzes Samtkäppchen, und sein Kopf war zwischen die Schultern gesunken; aber der Mann strahlte sogar von der Leinwand Vitalität und Kraft aus. Die zwinkernden Augen schienen mich festzuhalten.
»Das ist er«, sagte Taverner. »Gemalt von Augustus John. Eine Persönlichkeit, was?«
»Ja«, pflichtete ich ihm bei, und ich verstand jetzt, wieso Edith de Haviland das Haus ohne ihn leer fand. Dies war der »krumme Mann«, der das »kleine, krumme Haus« gebaut hatte, und ohne ihn hatte das »kleine, krumme Haus« seine Bedeutung verloren. »Das dort ist seine erste Frau, gemalt von Sargent«, erklärte mir Taverner.
Ich betrachtete das Bild zwischen den Fenstern. Es hatte eine gewisse Grobheit wie viele Porträts von Sargent. Das Gesicht war übertrieben lang, sodass es pferdeähnlich wirkte. Es war das Porträt einer typischen englischen Landedelfrau. Schön, aber etwas unlebendig. Sie schien nicht gerade zu dem lächelnden, kraftvollen kleinen Despoten über dem Kamin zu passen.
Die Tür öffnete sich, und Sergeant Lamb trat ein.
»Ich habe die Hausangestellten verhört, Chefinspektor«, meldete er, »hat aber nichts gebracht.«
Taverner seufzte.
Sergeant Lamb zog sein Notizbuch hervor und ließ sich unauffällig im Hintergrund des Zimmers nieder.
Wieder wurde die Tür geöffnet, und Aristides zweite Frau kam herein.
Sie trug ein kostbares Trauerkleid, das bis zum Hals geschlossen war und lange Ärmel hatte. Es stand ihr entschieden, und sie bewegte sich leicht und nachlässig. Ihr Gesicht war recht hübsch, und sie hatte schönes braunes Haar, das etwas auffallend frisiert war. Trotz Puder, Rouge und Lippenstift merkte man, dass sie geweint hatte. Um den Hals trug sie eine wertvolle Perlenkette, an der einen Hand einen großen Smaragdring, an der andern einen riesigen Rubin.
Noch etwas fiel mir an ihr auf: Sie sah ängstlich aus.
»Guten Morgen, Mrs Leonides«, begrüßte Taverner sie. »Es tut mir leid, dass ich Sie nochmal stören muss.«
Tonlos erwiderte sie: »Das lässt sich wohl nicht ändern.«
»Wenn Sie die Anwesenheit Ihres Anwalts wünschen, Mrs Leonides, so steht dem nichts im Wege.«
Ich fragte mich, ob sie die Bedeutung dieser Worte begriff. Anscheinend nicht. Sie antwortete nur ein wenig verdrossen: »Ich mag Dr. Gaitskill nicht. Ich will ihn nicht hierhaben.«
»Wollen wir dann
Weitere Kostenlose Bücher