Das kupferne Zeichen - Fox, K: Kupferne Zeichen
königliches Gegengewicht bekommen. Obwohl die Burg beträchtliche Gelder verschlungen hatte, hatten die Bewohner von Orford vergeblich auf den Besuch ihres Königs gewartet. Doch seit Thomas Becket drei Jahre zuvor in der Kathedrale von Canterbury ermordet worden war und man überall hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand den König dafür verantwortlich machte, schwankten viele Engländer in ihren Gefühlen für König Henry. Aus dem ganzen Land pilgerten die Menschen in Strömen zur Kathedrale von Canterbury, um Thomas Becket zu ehren. Und je öfter dabei Wunder geschahen, desto mehr Menschen kamen an sein Grab. Obwohl sie auch ihn niemals zu Gesicht bekommen hatten, waren die Bewohner Orfords von Stolz auf ihren früheren Herrn erfüllt. Denn es hatte sich herumgesprochen, dass Becket sogar heilig gesprochen worden war. Der König aber stand seit der Ermordung Beckets als gottloser Tyrann im Kreuzfeuer der Meinungen.
Auch Rose und Jean stritten über die Frage nach der Schulddes Königs. Die Gemüter der Menschen im ganzen Land schieden sich an dieser Frage.
Ellen war es einerlei. Sie war weder Thomas Becket noch dem König je begegnet. Wie sollte sie wissen, welcher von beiden ein lauterer Mann war, wenn sie keinen von ihnen kannte? Der einzige König, den sie bisher zu Gesicht bekommen hatte, war der junge Henry, der König ohne Macht. Sie hatte ihn auf Turnieren in der Normandie ein paar Mal von weitem gesehen. Guillaume hatte nicht viel über ihn erzählt. Nur, dass er ein junger, verschwenderischer Mann sei, der gern ein Held gewesen wäre. So wie alle Adligen seines Alters, hatte Ellen damals gedacht, sich aber kein Urteil über seine Fähigkeiten als Herrscher erlaubt, weil sie fand, dass ihr das nicht zustand. Wenn der Vater des jungen Königs eines Tages starb, würde der junge Mann schon wissen, wie er sein riesiges Reich regieren musste. Schließlich würde er nicht allein an der Verantwortung zu tragen haben. Männer wie der Maréchal würden ihm zur Seite stehen. Der junge König würde älter und reifer werden und lernen, seiner Aufgabe gerecht zu werden, so wie es die Könige vor ihm getan hatten.
Ellen wusste so gut wie nichts über die Zeit vor König Henry II. In ihrem Alter kannte man die schlimmen Zeiten unter König Stephan nicht aus eigener Erfahrung, und aus den Mündern der Alten klangen die Geschichten von Anarchie und ewig währendem Krieg zwischen Stephan und Mathilda wie Legenden.
Ellens Ziel stand fest: Sie würde eines Tages ein Schwert für den König von England schmieden. Wer dieser König war, spielte keine Rolle.
August 1173
E llen saß am Ufer des Ore und betrachtete das Glitzern des breiten Flusses. Am Rand wogte das Wasser durch das Schilf. Ellen schützte mit der Hand ihre Augen vor der Sonne und blickte über eine weitläufige Wiese, die an den Fluss grenzte. In der Ferne sah sie einen Mann, dessen federnder Gang sie an ihren Freund aus Kindertagen erinnerte. »Simon«, flüsterte sie und lächelte. Sie hatte in den vergangenen Wochen oft an ihn gedacht, aber nicht die Zeit gefunden, ihn aufzusuchen. Jetzt fragte sie sich, ob es nicht vielmehr ein Mangel an Mut als an Zeit gewesen war, der sie davon abgehalten hatte. Entschlossen stand sie auf. Heute würde sie es wagen. Sie wischte ihre tropfnassen Füße im Gras ab und schlüpfte in ihre Schuhe.
Die Erinnerungen an den Tag ihrer Flucht holten sie ein, als sie später die Heuwiese in der Nähe der Schmiede überquerte. Den Hügel hinauf stand das Gras so hoch wie damals. Jetzt, als erwachsene Frau, reichte es ihr nur bis zu den Hüften. Ohne darüber nachzudenken, ging Ellen nicht zur Gerberei, sondern schlug den Weg zur alten Kate ein. Viel schneller als in ihrer Erinnerung erreichte sie den Waldrand. Beim Anblick der Kate blieb Ellen wie angewurzelt stehen. Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper, obwohl es herrlich warm war. Die alte Hütte war völlig verfallen. Das Dach bestand nur noch aus Löchern, durch die Triebe einer jungen Birke wuchsen. Die Tür war herausgebrochen, das Innere von Gräsern, Brennnesseln und Disteln überwuchert.
»In letzter Zeit komme ich öfter hierher«, hörte sie eine tiefeStimme sagen. Erschrocken fuhr Ellen herum. Einen Moment fürchtete sie, es könne Sir Miles sein, und die gleiche Angst wie damals schnürte ihr den Hals zu. Der Mann, zu dem die Stimme gehörte, war etwas größer als sie, schlank und hatte kräftige Arme. Ellen zögerte einen Moment. »Simon?« An
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