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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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»›Schreiben Sie!‹, hatte der Redakteur gesagt. ›Aufrichtige Geschichten brauchen wir. Authentizität. Sie mit dem Bruch im Leben, Sie werden ja wohl kein Problem damit haben.‹« Doch ist diese vermeintliche »Recherche« (im doppelten Sinne) tatsächlich die Erfindung der Erinnerung. Sie kam zurück »wie in eine Heimat«. Das »Wie« ist hier entscheidend, die Gegend ist der Heimat nur täuschend ähnlich, tatsächlich ist sie fernste Fremde.
    »Niemand wusste, dass sich Vergangenheit nicht von selbst ergibt«, heißt es. Es ist die Besonderheit der Generation Schochs, dass sie eigentlich zu jung für Rückblicke ist: »Viel zu früh war es, dass ich mich an meine Kindheit erinnern musste, als lägen fünf Staaten und nicht nur einer zwischen uns, als könnte ich es mir leisten, von einer Kindheit zu träumen, der ich doch gerade erst entkommen war.«
    Im Zentrum steht eine Episode auf dem Kinderspielplatz der Siedlung, die offenbar Militärangehörigen vorbehalten war: Ein »Exot« taucht dort eines Tages auf, ein Junge aus dem Westen, mit dem die Tochter eines Volksarmisten verbotenerweise spricht, ein unerlaubter »Westkontakt«, für den der Vater sie beim Abendessen zur Rechenschaft zieht. Eine Erfindung der poetisch verfahrenden Erinnerung: Damals hatte die Familie noch gar kein Telefon, der Vater konnte gar nicht von der Episode erfahren haben.
    Das »Elefantengerüst« auf dem Spielplatz, »der damals schon aussah wie etwas Übriggebliebenes«, ist – ironischerweise – das leitmotivische Bild für die Erinnerung. Selbst ein Elefantengedächtnis würde gar nichts nutzen. Das Kind kann gar nicht wissen, was später bedeutsam sein wird, nachdem sich alle Koordinaten verschoben haben. Warum sollte die Begegnung mit dem Westjungen so etwas Besonderes sein, erst durch die Wende, durch den plötzlichen »Riss«, der »durch die Landschaft« geht, wird dem Ereignis eine Bedeutung verliehen. Die Erinnerung über den historischen und persönlichen Bruch hinweg ist eine Herkulesaufgabe. Und deswegen ist die Fiktion so wichtig.
    In ihrem wahnsinnig schönen und wahnsinnig traurigen Roman »Mit der Geschwindigkeit des Sommers« (2009) hat Julia Schoch diese Motive verdichtet und zugespitzt. Eine Frau, Tochter eines NVA -Offiziers und aufgewachsen in einem unschwer als die Garnisonsstadt Eggesin zu erkennenden Ort nahe dem Stettiner Haff, erinnert sich an das Leben ihrer Schwester, die trotz aller äußerlichen Anpassung nie im wiedervereinigten Deutschland und im neuen Leben angekommen ist. »Was weiß diese Zeit von einer anderen?«, lautet der erste Satz, der weniger eine Frage als deren Beantwortung ist: Nichts natürlich, womit wieder die Unvereinbarkeit von Vor- und Nachwendeleben angesprochen ist. Noch vor der Wende, als Mädchen, hatte die Schwester eine Affäre mit einem Soldaten, der, Jahre nach der Wende, als sie längst verheiratet ist und mit Kind in der von Entvölkerung bedrohten Stadt lebt, plötzlich wieder Kontakt aufnimmt.
    Die aus rätselhaften Gründen schwer depressive Frau lässt sich auf eine Affäre mit dem Mann ein, der für sie die Vergangenheit verkörpert. Sie selbst findet keinerlei Halt mehr. Für dieses eskalierende Gefühl, sich selbst verlorenzugehen, die Gegenwart nur als eine sich zuziehende Schlinge zu erleben, findet Julia Schoch immer wieder großartige Sätze, wie diese: »Die Wildheit, die vielleicht nichts weiter ist als eine Form des Schulterzuckens angesichts des Lebens. Wer nicht weiß, wofür er sich schonen soll, kann sich ja blind in alles hineinwerfen.« Dass die Postwendedepression hier, Jahre später, in einen Selbstmord mündet, ist eine extreme, aber keine Ausnahmegeschichte. Tatsächlich sind die Zahlen von Depressionskranken in Ostdeutschland deutlich höher als im Westen. Ausgerechnet derjenige, dessen Selbstmord die jüngste Debatte über die Volkskrankheit Depression ausgelöst hat, der Nationaltorwart Robert Enke, war aus Jena und hat seine ostdeutschen Wurzeln immer gepflegt.
    Irgendwann hält es die Schwester nicht mehr aus und fasst ihren Entschluss zum Selbstmord. Bei einem, von Julia Schoch großartig imaginierten letzten Treffen mit ihrem Liebhaber fragt sie den Ahnungslosen, ob er auch zurückgekommen wäre, wenn es die Wende nicht gegeben hätte. Nein, sagt der, »aus welchem Grund«. Aber wäre, Gegenfrage, sie denn hier, in dieser Garnisonsstadt am Rand der zugänglichen Welt, wohnen geblieben? »Kurz überlegt sie, dann schnell: Nein,

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