Das kurze Glueck der Gegenwart
sein. Die »schöpferische Zerstörung«, wie der Ökonom Schumpeter das Unternehmertum definierte, wird hier Erzählprinzip. Dass die Hauptfiguren alle Frauen sind ist ein bewusster Verfremdungseffekt: Die Opfer, die sie für den Erfolg bringen, sind noch viel größer und der Absturz ins Nichts der Attraktion und der Aktiendepots umso tiefer.
Was Ernst-Wilhelm Händlers Roman aber zu einem der wichtigsten der letzten zwei Jahrzehnte macht, ist die kongeniale Übertragung des kapitalistischen Prinzips auf die Erzählweise. Händler unternimmt nämlich nichts weniger als die feindliche Übernahme der Gegenwartsliteratur. Er imitiert und parodiert Stile und Tonlagen anderer Autoren (Rainald Goetz, Botho Strauß, Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz) und überträgt damit die Funktion des Universalmediums Geld auf die Sprache. »das mit den vielen stilen könnt ihr machen, weil es ein monolithisches gegengewicht gibt: das geld. der markt kann sich alles anverwandeln, weil er alles ausdrücken kann.« Als Gesellschafts- und Kapitalismuskritik ist das radikal: Es geht nicht nur darum, dass der Kapitalismus die Menschen zerstört, nein, viel finsterer: Die Individualität ist konvertierbare Münze geworden, simulierbar und imitierbar. Was sich besonders dünkt, ist nur Ausdruck eines Allgemeinen.
Händler hat die Systemtheorie des Soziologen Niklas Luhmann genau studiert, aber einen eigenen Schluss daraus gezogen: Bei ihm triumphiert die Literatur, die auch noch die Wirtschaft in sich aufnehmen kann. Dass Literatur als Buch auch wieder den Gesetzen des Marktes unterworfen ist, muss den Autor Händler nicht kümmern. Schließlich muss er nicht davon leben. Eine Paradoxie des Gegenwartsromans: Wer radikal und experimentell von ihr erzählen will, muss von ihr unabhängig sein, innerlich und äußerlich, geistig und materiell. Literatur, die den Markt bedienen will, die seinen Gesetzen folgen will, kann den Markt nicht darstellen.
Das doppelte Problem des Durchblicks und der Darstellung komplexer Zusammenhänge stellt sich nicht nur auf dem Feld der Ökonomie. Die gesamte Sphäre der Technologie, der modernen Naturwissenschaften oder des Internets stellt eine immense Herausforderung für die Literatur dar.
Helmut Krausser notierte 1999, dem Jahr, als der Internet-Hype kurz vor der Jahrtausendwende und dem lustvoll-apokalyptischen Millennium Bug einem Gipfel zusteuerte: »Ich glaube, dass unsere Gegenwart doch etwas ganz Neues, für den Literaten äußerst Arbeitsplatzgefährdendes birgt – den Verlust der Science-Fiction als spekulativen Spielraum. Die Gegenwart IST Science-Fiction geworden. Allein aufzuschreiben, was IST , überfordert in den meisten Fällen den technisch unbeschlagenen Autor. Wir müssen uns nichts mehr ausdenken, wir müssen vielmehr konstatieren.«
Dabei ist das Darstellungsproblem noch schwerer zu lösen als das reine Kompetenz- und Wissensproblem, das sich mit mühsamer und durch Stipendien abgefederter Recherche potentiell lösen ließe. Doch wie soll man von Vorgängen anschaulich erzählen, die, siehe Aktienmarkt, denkbar abstrakt sind? Vielleicht eben, wie Krausser nahelegt, als Science-Fiction.
Um einmal ein anderes, vergleichbares Beispiel zu wählen: Beim neuen, gigantomanischen Teilchenbeschleuniger in Genf, dem LHC , gibt es, wie einem Bericht im »Spiegel« zu entnehmen war, keinen Physiker mehr, der das Funktionieren des Ganzen überblicken würde. Auch kennt man hier gar keine individuellen Forscher mehr, sondern nur noch anonyme Großteams, die auch gemeinsam publizieren oder zu einem Kongress irgendeines ihrer Mitglieder schicken, das gerade Zeit hat. Wenn da mal ein Nobelpreis zu vergeben ist, dann reisen vielleicht ganze Hundertschaften nach Stockholm. Big Science ist so kompliziert, sie lässt sich schwer in einen großen Roman fassen.
Aber auch hier gilt: Es ist schwer, aber nicht unmöglich. Thomas Lehrs Roman »42« (2005) hat sich genau diese Welt zum Setting einer Mystery-Geschichte gewählt, die ein bisschen an die amerikanische Fernsehserie »Lost« erinnert. Ein physikalisches Experiment am Forschungszentrum CERN läuft in kosmologischen Dimensionen schief: Als Kollateralschaden nämlich bleibt in »42« die Zeit stehen und nur eine kleine Gruppe von Besuchern, Journalisten und Wissenschaftlern wird in einer Art Zeitblase gefangen, in der das Leben biologisch normal weiterläuft. Ansonsten bewegen sie sich durch eine eingefrorene Welt und müssen die menschliche
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