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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Kind von seinem Vater von einem Tag auf den anderen verlassen. Das Familienauto bleibt im Schnee stecken, die Mutter und der damals zehnjährige Sohn müssen anschieben, der Vater sitzt am Steuer, fährt einfach davon und kommt nicht wieder. Etwas Unfassbares ist geschehen, ein Vorgang größter Tragweite, für den es keine Erklärung gibt, ein Ereignis außerhalb der Kausalität, ein furchtbares Wunder. Es kann ja, so denkt das Kind, keine Absicht gewesen sein, also müssen ihm unbekannte Gründe dahinterstecken. Vielleicht wurde der Vater entführt? Gegen das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare erfindet das Kind sich einen Roman, einen Thriller, den es zunächst im Wachen, dann auch im Schlaf immer weiterspinnt. Der Sohn wird zur Geisel der eigenen Phantasie; aus dem eigenen Familienroman entkommt er sein ganzes Leben lang nicht mehr.
    »Die Frequenzen« ist um zwei Brennpunkte herum konstruiert, um zwei Vater-Sohn-Konflikte. Alexanders Trauma steht die kontrapunktische Geschichte seines Jugendfreundes Walter Zmal gegenüber, der seinen selbstbezogenen Vater hasst, einen berühmten Architekten, der für jede Laune des Sohnes schon die passenden Beziehungen, Praktika und Stipendien bereithält. Gegen die Allmacht des Patriarchen hilft Walter nur die Flucht in den ewigen Dilettantismus.
    Die gemeinsame Geschichte von Alexander und Walter liegt lange zurück. Sie nimmt einen neuen Anlauf, als der verkrachte Schauspielschüler Walter in einer Lebenskrise professionelle Hilfe sucht. Seine Therapeutin Valerie – die gerade mit Alexander eine romantische Affäre begonnen hat – hält Walters Probleme für unerheblich und wirbt ihn stattdessen als Assistenten für eine Therapiegruppe an. Dort soll er, nur vermeintlich gesund und nur vermeintlich Schauspieler, in die Rolle eines Patienten schlüpfen, um irgendwelche gruppendynamischen Prozesse auszulösen, die er selbst nicht versteht. Tatsächlich aber setzt Valeries Fehleinschätzung eine fatale seelische Kettenreaktion in Gang.
    Der vielstimmige Roman kommt trotz seines Umfangs mit einem dünnen Skelett aus. Er braucht nur wenige Schauplätze und ein schmales Figurenensemble. Eltern und Kinder in verschiedenen Konstellationen bilden einen Reigen der Missverständnisse und der Verzweiflung, in dem alle Figuren durch das netzartige Gewebe der Handlung, aber stärker noch durch ihre Obsessionen und Phantasmen miteinander verklammert sind.
    Alexander Kerfuchs ist ein Synästhet, die Grenzen der Wahrnehmung und ihre Überschreitung im Wahnsinn oder im Drogenrausch sind ein Leitmotiv des Buches. Nur ein Teil des akustischen oder optischen Frequenzspektrums ist den menschlichen Sinnen zugänglich, was darüber hinausgeht, verheißt ekstatisches Glück und bedroht zugleich den Seelenhaushalt: »Und ich weiß nicht, ob du das gewusst hast, aber jeder Regenbogen besitzt noch einen ganzen Haufen Nebenbögen im ultravioletten und infraroten Bereich, die unsichtbar den Himmel pflastern. Manche Vögel können diese Frequenzbereiche sehen, und vielleicht verlieren sie deshalb so häufig den Verstand.«
    Alle Figuren in diesem Roman sind mehr oder weniger verrückt. Valerie, die kiffende Therapeutin, kommt auf die irre Schauspielidee, und Alexander, ihr Liebhaber, der als Pfleger arbeitet, simuliert vor den entsetzten Alten schwere Stürze und schläft daheim auf dem Fußboden, wo er sich mit Klebestreifen den Umriss einer Tatort-Leiche gebastelt hat. Dieses Theatralische und Spielerische prägt den Roman selbst, ob Setz nun die Therapiestunde als Minidrama wiedergibt oder ein ganzes Kapitel als Parodie des proustschen Fragebogens erzählt. Vorgeführt wird die Geburt der Fiktion aus der kindlichen Einbildungskraft.
    Das alles ist im Detail so fein und virtuos gearbeitet, dass der Roman jenen verspielt-ratternden Rube-Goldberg-Maschinen ähnelt, von denen im Gespräch der Eltern einmal die Rede ist. Doch was als Apparatur sinnlose Redundanz bedeutet – eine komplexe Kette von Einzelaktionen, die umständlich und indirekt eine ganz einfache Aufgabe erfüllen, etwa ein Ei zu köpfen –, ist als ästhetisches Prinzip grandios, ein erzählerisches Dominospiel, eine Mechanik der Gewalt, der am Ende ganz brutal und unmetaphorisch ein Mensch zum Opfer fällt.
    Was dieses Buch so außergewöhnlich und diesen Autor zu einem der größten Talente der deutschsprachigen Literatur macht, sind seine überscharfe Optik und die verblüffende Phantasie des Ausdrucks. In den Sexszenen verbinden sich

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