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Das kurze Glueck der Gegenwart

Das kurze Glueck der Gegenwart

Titel: Das kurze Glueck der Gegenwart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Kaemmerlings
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Generation erzählt werden – selbst da, wo die Eltern und Großeltern sprechen. Das deutsche Urmodell sind die »Buddenbrooks« von Thomas Mann. Er erzählt das Leben der Erzeuger und Ahnen, die eigene Kindheit und die Konflikte zwischen den Generationen. Familie ist Herkunft, nicht Zukunft. Man erfährt, wo die junge Generation herkommt, aber nicht, wo sie hin will, vor allem nicht, was nach ihr kommt. Deswegen kann sie natürlich auch so gut mit den Älteren abrechnen: Sie musste es selbst noch nicht besser machen. Am Ende der Fahnenstange steht die jüngste Generation, die mit dem Erbe nicht mehr viel anderes anzufangen weiß als Kunst. Der Familienkrempel geht zum Trödler, die Geschichten in den Roman, die große Resterampe.
    Ich habe eine Tochter aus erster Ehe, die inzwischen fünfzehn ist. Als sie geboren wurde, war ich sechsundzwanzig, auch nicht gerade superjung, mein Studium war gerade beendet. Aber in meinem damaligen Freundes- und Bekanntenkreis, Doktoranden, Journalisten, angehende Lehrer, die absolute Ausnahme. Nach der Trennung lebte meine Tochter bei der Mutter im Rheinland, ich wegen meines Jobs in Frankfurt, meine neue Freundin in Berlin. Das heißt, ich führte jahrelang eine doppelte Fernbeziehung, ein Wochenende hier, das nächste dort. Schließlich wurde ich zum zweiten Mal Vater. Jetzt pendelte ich jede Woche von Frankfurt nach Berlin zu meiner Freundin und dem Baby. Dass das alles, Trennung, Scheidung, Pendeln, neue Familie mit ihren komplizierten Beziehungen (meine Exfrau und die neue Freundin, meine Tochter und die neue Familie des Papas), mit Konflikten, Krisen und Krächen verbunden war, kann sich jeder leicht vorstellen.
    Diese Patchwork-Realität kommt im Roman aber kaum vor. Und da mein Leben keine sonderbare Ausnahmeexistenz mehr ist, sondern für viele Menschen Normalität, kann man diese Kritik auch verallgemeinern: Die Familienprobleme der Gegenwart kommen im Roman der Gegenwart kaum vor.
    Wer etwas darüber erfahren will, muss soziologische Fachliteratur oder Zeitungsartikel lesen, Ratgeber oder Sachbücher. Die familiäre Realität meiner eigenen Generation, also der zwischen sagen wir dreißig und fünfzig, spiegelt sich in der Gegenwartsliteratur nicht wieder. Diese Realität ist gekennzeichnet durch Patchworkfamilien, Fernbeziehungen mit und ohne Kind, alleinerziehende Mütter, von ihren Kindern getrennt lebende Väter, Stiefmütter und Stiefväter, die wegen der Kurzlebigkeit von Beziehungen die gerade erst gewonnenen Kinder gleich wieder verlieren. Scheidungsanwälte oder Jugendamtsmitarbeiter können davon ein Lied singen, die Autoren aber darüber keinen Roman verfassen.
    Denn nur weil das im Großen und Ganzen so ist, konnte eine schmale Novelle von Thomas Hettche im vergangenen Jahr allein wegen ihres Themas so ein Aufsehen erregen: »Die Liebe der Väter« erzählt von einem Mann in mittleren Jahren, der an einer sehr typischen Lage verzweifelt. Der Buchhandelsvertreter lebt getrennt von seiner nichtehelichen Tochter, die inzwischen dreizehn Jahre alt ist, und wird seit jeher von der selbstbezogenen Hippie-Mutter auf Distanz gehalten. Als sie mit befreundeten Familien einen Urlaub auf Sylt verbringen, brechen die Konflikte auf und es kommt zu einer dramatischen Eskalation. Als der Vater beim Silvesterdinner nebenbei erfährt, dass die Tochter die Schule wechseln wird, sieht er rot und verpasst ihr eine Ohrfeige. Was ihn natürlich vollends von ihr entfremdet und obendrein in der Urlaubsgemeinschaft zum Paria macht.
    Dabei richtet sich der Hass des Vaters natürlich auf die abwesende Mutter – und auf das deutsche Familienrecht, dass bis vor kurzem Väter von nichtehelichen Kindern benachteiligte, indem es ihnen das Sorgerecht vorenthielt: »Das Ergebnis ist eine Erfahrung, die unzählige Väter machen: Du hast ein Kind, das du liebst, und man zwingt dich, bei allem, was ihm zustößt, hilflos zuzusehen. Das ist Folter.«
    Es ist eine interessante Volte, dass Thomas Hettche, in den frühen Neunzigern einer der wortmächtigsten Gegner des »naiven« Realismus, inzwischen ein überraschend unmittelbares Verhältnis zwischen Literatur und Welt unterstellt, ja den Roman sogar zum Vehikel einer direkten Gesellschaftskritik macht. Es war nicht vorhersehbar, dass Hettches Buch just in dem Moment erscheinen würde, als die Bundesverfassungsrichter im Sommer 2010 der Ungleichbehandlung der Väter ein Ende setzten. Jedenfalls war das ein weiterer interessanter Zusammenprall von

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