Das kurze Glueck der Gegenwart
Fiktion und Wirklichkeit. War der Roman zu spät gekommen, weil er die gleiche Situation beklagte wie der Vater vor dem Verfassungsgericht? War er nun überholt? Hatte er sich erledigt? War er per Gerichtsbeschluss aus der Überzeitlichkeit der Kunst in die Flüchtigkeit des Tagesgeschäfts heruntergezogen worden?
Wenn das so wäre, spräche es sicher nicht für die literarische Qualität des Buchs, das in manchen Passagen etwas von einem Thesenroman hat. Es ist sicher eine Schwäche, dass seine inhaltlich zentrale Passage eine Philippika gegen die alte Sorgerechtsregelung ist. Man könnte sie beinahe eins zu eins als Plädoyer der Verteidigung einsetzen. »Dieser Krüppelblick der verlassenen Väter.«
Kritiker eines unmittelbaren, inhaltlichen Gegenwartsbezugs der Literatur werden sich durch diese Koinzidenz bestätigt sehen. Aber jeder, auch der beste Roman hat Anteile solcher Zeitspuren, die mehr oder weniger schnell unzeitgemäß werden. Es ist ein Extremfall, wenn sie, wie bei der »Liebe der Väter« praktisch unmittelbar bei Erscheinen sichtbar werden. Jede Literatur hat eine Aktualitätsanteil, dessen Haltbarkeit verfällt. Ob das nun technische Entwicklungen sind, Kleidermoden und Automarken – oder gesellschaftliche Moralvorstellungen oder Gesetze, die einen erzählten Konflikt überhaupt erst erzeugen –, es gibt keine überzeitlichen, ewigen menschlichen Werte und Haltungen. Alles ist historisch. Und dennoch gibt es an großer Literatur einen Kern, der von diesem Wandel unberührt bleibt, der dem Zahn der Zeit trotzt. Walter Benjamin hat einen berühmten Aufsatz über Goethes Roman »Die Wahlverwandtschaften« geschrieben. Dort nennt er das eine »Wahrheitsgehalt«, das andere, Zeitgebundene, Kommentarbedürftige, dem Leser späterer Epochen Fremde, den »Sachgehalt«. Hettches Roman scheint wie ein Paradebeispiel für diese Unterscheidung. Die Sorgerechtsfragen sind schon der Gegenwart ferngerückt. Warten wir also mal ab, wie sich Hettches Buch in einigen Jahren liest.
Die Initialzündung für die Renaissance des traditionellen Genres »Familienroman« war Jonathan Franzens weltweiter Bestseller »Die Korrekturen« (2001), in dem die Geschichte der Lamberts, einer Mittelklasse-Familie aus dem Mittleren Westen, konzentriert auf die Ereignisse eines Jahres erzählt wird. Dabei folgt Franzen bei aller sprachlichen und psychologischen Meisterschaft einem sehr traditionellen Erzählmuster. Diese Rückkehr zum konventionellen Erzählen war in Amerika die Folge einer ausführlichen Postmoderne-Diskussion, in der das zwanghafte Hantieren mit erzählerischen Metaebenen und Selbstreflexionen in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Medien als Sackgasse erkannt worden war. Doch nicht jeder der begabten jüngeren Autoren Amerikas hatte daraus den gleichen Schluss wie Franzen gezogen, der ultramodernen sozialen Wirklichkeit mit den erzählerischen Mitteln einer gemäßigten Moderne beizukommen.
Ungleich radikaler hatte wenige Jahre zuvor David Foster Wallace den Stoff einer dysfunktionalen, kaputten Familie aufgenommen: Im Zentrum seines Jahrhundertromans »Unendlicher Spaß« (1996), 2009 großartig von Ulrich Blumenbach ins Deutsche übersetzt, steht die – fiktive – Incandenza-Sippe: Deren Oberhaupt, der berühmte Avantgarde-Regisseur James Incandenza, hat den die Handlung vorantreibenden Videofilm gedreht, dessen Anblick den Zuschauer in eine tödliche Starre versetzt. »Unendlicher Spaß« ist vieles gleichzeitig: eine satirische Zukunftsversion des westlichen Kapitalismus, ein Abgesang auf den amerikanischen Wettbewerbs- und Sportwahn, Medienkritik, ein radikales Sprachexperiment, eine Shakespeare-Modernisierung. Aber es ist auch eine Verballhornung des traditionellen Familienromans. Während Franzen in der deutschsprachigen Literatur vor allem epigonale Nachfolger gefunden hat, wurde die Richtung von David Foster Wallace von zwei der intelligentesten Autoren kongenial fortgesetzt: Clemens J. Setz und Thomas von Steinaecker.
Schon in seinem vertrackten Debüt »Söhne und Planeten« (2007) erzählt der Grazer Setz von fernen, übermächtigen Vaterfiguren, vom verzweifelten Ringen der Söhne um Autonomie und Distanz. In seinem großen, über siebenhundert Seiten starken Nachfolgeroman »Die Frequenzen« (2009), einem der wichtigsten deutschsprachigen Romane der letzten Jahre, führt Setz dieses Thema auf der epischen Hauptbühne weiter: Alexander Kerfuchs, eine der beiden Hauptfiguren, wurde als
Weitere Kostenlose Bücher