Das Labyrinth der Wörter
Malen, bevor er anfängt, mit der Axt auf Türen loszugehen. Die Geschichte hatte mich ganz schön mitgenommen, damals. Nicholson hat es verdammt gut drauf, Durchgeknallte zu spielen.
Um auf das Buch zurückzukommen, eins ist jedenfalls sicher: An den Tagen, wo Margueritte und ich uns Die Pest reinzogen, verging die Zeit auf der Bank schneller als sonst.
Eines Tages hat sie zu mir gesagt: »Sie sind ein echter Leser, Germain, wie ich sehe.«
Das hat mich erst mal zum Lachen gebracht, weil ich und Bücher … na ja, Sie wissen schon.
Aber sie meinte das ganz ernst. Sie hat mir erklärt, dass Lesen mit Zuhören anfängt. Ich selbst hätte eigentlich eher gedacht, mit Lesen. Aber sie hat gesagt: »Nein, nein, glauben Sie das nicht, Germain! Um Kindern das Lesen nahezubringen, muss man ihnen laut vorlesen.« Und sie hat hinzugefügt: »Wenn man das gut macht, dann werden sie davon abhängig, wie von einer Droge. Später, wenn sie größer sind, brauchen sie Bücher.«
Das hat mich überrascht, aber wenn ich es mir richtig überlegte, kam mir die Idee gar nicht so schlecht vor. Wenn man mir Geschichten vorgelesen hätte, als ich klein war, hätte ich meine Nase später vielleicht öfter in ein Buch gesteckt, statt aus bloßer Langeweile Dummheiten zu machen.
Deshalb habe ich mich an dem Tag, als sie mir das Buch dann schenkte, wirklich gefreut, auch wenn ich mich gleichzeitig schämte, denn wenn ich ganz ehrlich war, wusste ich, dass ich es nie lesen würde, weil es zu lang und viel zu kompliziert war.
Sie hat es mir einfach hingehalten, als wir gerade dabei waren, zu gehen: »Ich habe die Passagen, die wir zusammen gelesen haben, mit Bleistift angestrichen. Zur Erinnerung.«
Ich habe mich bedankt und gesagt, dass es nett von ihr wäre. Und dass ich mich freute.
Sie hat gelächelt. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Germain, glauben Sie mir! Man darf Bücher nicht egoistisch lieben, Bücher genauso wenig wie alles andere. Wir sind nur auf Erden, um Dinge weiterzugeben, wissen Sie … Zu lernen, seine Spielsachen zu teilen, ist wahrscheinlich die wichtigste Lektion, die man sich im Leben aneignen muss. Im Übrigen wollte ich mich erbieten, Sie bei Gelegenheit mit ein paar anderen Texten bekanntzumachen, die mir am Herzen liegen. Wenn Sie es nicht leid sind, mir zuzuhören, natürlich … Möchten Sie?«
Es gibt Leute, denen kann man einfach nichts abschlagen. Sie schaute mich an mit ihren kleinen, freundlichen Augen, ihrem runzligen Gesicht und diesem zufriedenen Ausdruck,als hätte sie gerade einen tollen Witz gemacht oder irgendwem einen Klingelstreich gespielt. Ich habe mir gesagt, dass sie einer Menge Männer den Kopf verdreht haben musste, wenn sie sie einfach bloß fragte: »Möchten Sie?«, so wie mich gerade.
Ich habe nur genickt. Ich fühlte mich glücklich und dumm, das geht bei mir oft zusammen.
Ich schaute ihr nach, wie sie die Allee entlangging. Und blieb wie angewurzelt auf der Bank sitzen, das Buch in den Händen. Es war mein erstes Buch … ich meine: das erste, das ich geschenkt bekam.
Da ich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte, habe ich es zu Hause erst mal auf den Fernseher gelegt. Aber am Abend, als ich gerade das Licht ausmachen wollte, um mich in die Falle zu hauen, habe ich es angeschaut. Es sah aus, als würde es auf mich warten.
Da habe ich wieder diese Stimme in meinem Kopf gehört. Sie sagte: Verdammt, Germain, jetzt reiß dich zusammen! Es ist doch nur ein Buch.
Ich habe es genommen und aufgeklappt, ohne mich gleich am Anfang aufzuhalten. Ich habe eine Stelle gesucht, die Margueritte angestrichen hatte, und bin auf den Satz gestoßen: Am Morgen des 16. April trat Doktor Bernard Rieux aus seiner Praxis und stolperte mitten auf dem Treppenabsatz über eine tote Ratte. Und als ich ihn gefunden hatte, war er fast einfach zu lesen, da ich ihn ja schon kannte. Um ihn noch besser wiederfinden zu können, habe ich ihn mit dem Leuchtstift unterstrichen, den ich für die Etiketten brauche, wenn ich auf dem Markt Gemüse verkaufe.
Dann habe ich gesucht: Herein, ich habe mich aufgehängt . Ich habe eine Weile gebraucht, aber es war eigentlich wie ein Spiel. Eine Schnitzeljagd. Noch heute ist Die Pest ein Buch,das ich nur in kleinen Häppchen lesen kann. Bei den anderen Büchern lasse ich nicht locker, auch wenn es schwer ist, auch wenn ich mich quäle – abgesehen vom Wörterbuch, das lese ich auch nicht ganz am Stück … Doch sonst versuche ich es auf jeden Fall.
Aber
Weitere Kostenlose Bücher